Peter Ruzicka

Select your language

MIT STETER LUST AM EXPERIMENT

Salzburg, Hamburg, München: An Peter Ruzicka geht im Bereich des zeitgenössischen Kulturlebens kein Weg vorbei. Zudem ist er ein international beachteter Komponist. Am 3. Juli 2023 feiert der gebürtige Düsseldorfer seinen 75. Geburtstag.

Peter Ruzicka, Geschäftsführer der Osterfestspiele Salzburg | Bildquelle: picture alliance/APA/picturedesk.com

Scheinbar mühelos tanzt Peter Ruzicka parallel auf verschiedenen Hochzeiten, schüttelt hier mal eine Oper aus dem Ärmel und dort ein Buch, während er lange Zeit auch als Intendant alle Hände voll zu tun hatte. Seit über vier Jahrzehnten prägt Ruzicka als Musikmanager, Dirigent und Komponist, als Autor, Moderator und Jurist das Musikleben unserer Zeit. Was antwortet so jemand auf die Frage nach seinem Beruf? "Bis vor ein paar Jahren Intendant", antwortet Ruzicka. "Jetzt ganz eindeutig und ausschließlich Komponist. Das war für viele Jahre nicht ganz einfach, weil beide Tätigkeiten sehr zeitaufwändig sind und vor allen Dingen eine gewisse Ausschließlichkeit verlangen. Und das sind dann doch Situationen, wo man sich fast bedrängt fühlt durch viele andere Aufgaben, die auf einen warten."

AM ANFANG WAR DAS KLAVIER

Die allererste Komposition schreibt Peter Ruzicka 1967 mit knapp 20 Jahren: "Drei Szenen für Klarinette solo". Bis dahin hat er, ausgebildet am Hamburger Konservatorium, vor allem Oboe und Klavier gespielt. "Das Klavier stand am Anfang", erinnert sich Ruzicka." Die Bemühung, nicht nur schwere Literatur reproduzieren zu können an diesem Instrument, sondern nach einiger Zeit auch das Suchen nach einem eigenen Klang. Es war der Wunsch, das aufzuschreiben, dass auch andere das Erfundene wiedergeben können. Es blieb aber zunächst beim Klavier, und das reichte dann wiederum nicht aus und musste einem größeren Spektrum von Klangfarben und Formen weichen. Und so war es ein größerer Prozess des Learning by Doing."

SPERRIG UND SINNLICH ZUGLEICH

Und obwohl es ihn nun auch kompositorisch heftig in den Fingern juckt, studiert er erst einmal Rechts-, Theater-, Musik- und Betriebswirtschaft. An der FU Berlin promoviert er über Urheberrecht. Sperrige Themen und Stoffe reizen ihn schon immer. Theoretisch und praktisch. Seine Oper "Benjamin" beispielsweise, uraufgeführt im Juni 2018 an der Hamburger Staatsoper, behandelt das Leben des Philosophen Walter Benjamin. Ein Wagnis, das geglückt ist. Sperrig und sinnlich zugleich.

PETER RUZICKA AUF BR-KLASSIK – ZUM 75. GEBURTSTAG

Anlässlich des 75. Geburtstags von Peter Ruzicka würdigt BR-KLASSIK ihn als Dirigenten am Montag in der Sendung "Der Vormittag" ab 9:05 Uhr. Werke von dem Komponisten Peter Ruzicka gibt es in "Horizonte" am Dienstag ab 22.05 Uhr.

Und dann: Direkt die nächste Herausforderung, nach seinem Ende als Intendant bei den Salzburger Osterfestspielen: "Es sind dann insgesamt 40 Jahre Tätigkeit im kulturellen Managementbereich neben der eigenen künstlerischen Arbeit. Und ich glaube, das ist eine sehr gute, runde Zahl, die dann auch die Freiheit eröffnet, an sich selbst, an die eigene Musik zu denken." An eine Kammeroper zum Beispiel. Da klaffte noch eine Leerstelle in Ruzickas Kompositionsverzeichnis. Für die Donaueschinger Musiktage 2022 komponierte er "Eingedunkelt". Nicht ganz eine Kammeroper, aber so ähnlich: für Violine, Kammerchor und Orchester. Und unter Kent Nagano die Uraufführung eines Requiems, auch 2022.

IMMENSER WERKKATALOG

Peter Ruzicka | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Das Komponieren bleibt Kernkompetenz für Ruzicka.Trotz seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Kulturmanager bei der Staatsoper Hamburg, den Salzburger Festspielen und der Münchener Biennale ist über die Jahre ein Werkkatalog entstanden, der mit anderen Vollzeit-Komponisten locker mithalten kann. Kleine, feine kammermusikalische Stücke, sieben Streichquartette, zahlreiche Orchesterkompositionen und drei Opern. Peter Ruzicka versteht es, Orchesterfarben so zu mischen, Klänge so rauschen und klirren zu lassen, dass die Musik nicht nur in die Ohren dringt, sondern gleich den ganzen Körper erfasst. Gelernt hat er das unter anderem bei Hans Werner Henze. Die Musik hat ungeheuer viele Möglichkeiten, Zwischentöne zu setzen.

 

DIE LUST ZU BEGEISTERN

Von Henze übernimmt Peter Ruzicka auch die Münchener Biennale. 1996 ist das. 18 Jahre lang leitet Ruzicka das bekannte Festival für Neues Musiktheater; es lebt von Ruzickas Lust am Experimentellen. Und von seiner Lust, Menschen für Neue Musik zu begeistern. Legendär auch die Konzertreihe "Klangspuren". Als Moderator der Konzertreihe lädt er junge Komponistinnen und Komponisten aus aller Welt ein. Und jedem Gast stellt er am Ende die gleiche Frage: Warum komponieren Sie? "Die Musik hat ungeheuer viele Möglichkeiten Zwischentöne zu setzen, Emotionen zu transportieren... Dieses Unaussprechliche, das ist wohl der Beweggrund selbst zu komponieren." So beantwortet Ruzicka selbst diese Frage.

TALENTE SIND AUFGABEN

Ob nun als Komponist, Musikmanager, Dirigent oder als Professor für Bühnentarif- und Leistungsschutzrecht: Peter Ruzickas Schaffen steht ganz im Dienste der Musik. Seine Talente betrachtet er als Aufgaben. Zum Glück für uns, zum Glück für die Musik unserer Zeit.

Kristin Amme

Sendung: "Allegro" am 3. Juli 2023 ab 6:05 auf BR-KLASSIK.

Die letzte Begegnung mit Paul Celan wird ein berührendes Stück Musik

Peter Ruzicka dirigiert am «Sonic Matter»-Festival in Zürich sein neues Bratschenkonzert für Nils Mönkemeyer. Auch die anderen Werke des ungewöhnlichen Programms mit dem Tonhalle-Orchester sind lauter Entdeckungen.

Psychedelischer Klangfarbenrausch

Gleich vier Schweizer Erstaufführungen standen auf dem Programm, darunter sogar die Uraufführung eines Solokonzerts für den bekannten Bratschisten Nils Mönkemeyer. Auch die Namen der beiden Komponisten, Peter Ruzicka und George Enescu, wird man in dieser Kombination kaum jemals bei traditionellen Sinfoniekonzerten antreffen. Das zeigte unfreiwillig einmal mehr, wie verengt das Repertoire dort immer noch ist, zumal sich jedes der hier gespielten Werke ohne Abstriche auch im klassischen Umfeld behaupten könnte.

In der ungewöhnlichen Zusammenstellung am Freitag ergaben die vier Stücke stilistisch ein überzeugendes Ganzes. Das ist kein Zufall, denn Peter Ruzicka, der als Intendant der Salzburger Festspiele und der dortigen Osterfestspiele lange zu den einflussreichsten Kulturmanagern der Musikwelt gehörte, setzt sich als Komponist seit Jahren mit der Musik bedeutender Spätromantiker auseinander. Neben dem Fixstern Gustav Mahler inspiriert ihn immer wieder auch George Enescu, der führende Komponist Rumäniens im 20. Jahrhundert.

Enescus Schaffen ist leider in weiten Teilen immer noch ein seltener Gast in westlichen Konzertsälen, obwohl seine Musik eine originelle Mittlerposition zwischen dem Impressionismus und der frühen Moderne bei Bartók und Strawinsky einnimmt. Die mangelnde Präsenz liegt wohl auch an dem Umstand, dass Enescu viele Stücke bloß skizziert, aber nicht ausgearbeitet hat. Schuld daran waren seine vielfältigen anderen Verpflichtungen, nicht zuletzt als Geiger von Weltruf – zu seinen Schülern zählten spätere Größen wie Arthur Grumiaux, Ivry Gitlis und Yehudi Menuhin.

Auch Enescus 4. Sinfonie von 1934, die Ruzicka am Ende des Tonhalle-Konzerts dirigiert, ist erst dank einer Vervollständigung der Orchestrierung durch den Experten Pascal Bentoiu überhaupt aufführbar. Sie entpuppt sich als vierzigminütiger Koloss, überaus reich an Farben und prägnanten Themen, aber alles andere als leichte Kost. Denn Enescu bricht hier völlig mit dem eingängig-folkloristischen Stil der «Rumänischen Rhapsodien», seines bekanntesten Werks, und beschreitet an den Grenzen zur Atonalität einen ganz eigenen Weg in die Moderne. Das Tonhalle-Orchester bringt die streckenweise wild mäandernde Musik mit großem Engagement und vorbildlicher Transparenz zum Leuchten.

Eine Entdeckung ist auch das zweite Werk Enescus, die Tondichtung «Isis» von 1924, ein sinfonisches Adagio für Frauenchor und Orchester, präsentiert ebenfalls in einer Aufführungsfassung von Bentoiu. Die Frauenstimmen, gesungen von den Damen der Zürcher Sing-Akademie, werden darin wie Orchesterinstrumente behandelt; es gibt jedoch wie in Maurice Ravels «Daphnis et Chloë», das hörbar Pate stand, keinen Text. Die Wirkung ist geradezu psychedelisch, ein Klangfarbenrausch, aber mit deutlich dunklerer Palette abgemischt als bei den französischen Impressionisten.

«Musik über Musik»

Ruzickas eigene Werke, die vor der Pause in der Tonhalle erklangen, wirken demgegenüber weniger experimentell, dafür formal aber viel geschlossener. Dennoch sind sie hörbar aus ähnlichem Holz geschnitzt, vor allem im klangfarblich genau dosierten Einsatz des groß besetzten Sinfonieorchesters. Bei Ruzicka ist das die Folge einer doppelten Perspektive, die sein Schaffen – nach avantgardistischen Anfängen – heute immer stärker prägt: Er reflektiert darin oft ältere Musik, jedoch nicht im Sinne einer Retro-Ästhetik, sondern mit zeitgenössischen Mitteln und Brechungen. Das lässt diese «Musik über Musik» (Ruzicka) eigentümlich vertraut und zugänglich wirken, aber nicht epigonal.

In seinem 2019 entstandenen «Furioso» greift er ein gleichnamiges Orchesterstück des Komponisten und legendären Theaterimpresarios Rolf Liebermann auf – es ist zugleich eine persönliche Hommage an den gebürtigen Zürcher, dem Ruzicka einst als Intendant der Hamburgischen Staatsoper nachgefolgt war. Man muss die Vorlage nicht kennen, um sich vom Drive dieser hochvirtuosen Orchesteretüde unmittelbar mitreißen zu lassen – auch die Tonhalle-Musiker haben sichtlich Spaß an der Herausforderung.

Das für Nils Mönkemeyer komponierte Bratschenkonzert mit dem Titel «Départ» ist weniger spielerisch, vielmehr dem Anlass entsprechend getragen von tiefem Ernst. Darin reflektiert Ruzicka eine Begegnung mit Paul Celan, kurz vor dessen Freitod im April 1970. Ruzicka hat dem großen Lyriker unter anderem schon mit seinem Bühnenwerk «Celan» von 2001 ein Denkmal gesetzt. In dem während des Corona-Lockdowns 2020 entstandenen Konzert imaginiert er noch einmal die zerrissenen Seelenzustände, die Celans Leben vor dem finalen Gang in die Seine verdüsterten. «Départ Paul» lautete dessen letzte persönliche Notiz.

Der Solobratsche kommt in dem einsätzigen Stück die Rolle eines lyrischen Ichs zu, das die gesamte Gefühlsskala zwischen Aufbegehren und Resignation widerspiegelt – eine extreme Herausforderung, auch spieltechnisch, der sich Mönkemeyer jedoch mit glühend-intensivem, sehr wandlungsfähigem Ton vollauf gewachsen zeigt. Nach dem erschütternden Schluss, einem quasi realistisch auskomponierten Versinken im Schweigen, herrscht einen Augenblick lang Stille in der Tonhalle. Dann erhalten Solist und Komponist gleichermaßen einhelligen Beifall, zu Recht.

 

Christian Wildhagen

Neue Zürcher Zeitung

5.Dezember 2022

 


 

BENJAMIN - Pressestimmen

Gehetzt, doch nicht ohne Hoffnung
"Peter Ruzicka hat eine eindringliche Oper über Walter Benjamin geschrieben. An der Staatsoper in Hamburg erlebt sie nun ihre Uraufführung – mit imposanten Singstimmen."
6. Juni 2018
Link: Frankfurter Allgemeine - Bühne und Konzert

Mitreißendes Musiktheater an der Staatsoper
"Vom Premierenpublikum bejubelt: An der Staatsoper dirigierte Peter Ruzicka die Uraufführung seiner Oper „Benjamin"."
5. Juni 2018
Link: Hamburger Abendblatt

Hannah Arendt and Walter Benjamin Don’t Talk. They Sing.
"Dietrich Henschel as the doomed German-Jewish philosopher Walter Benjamin in Peter Ruzicka’s “Benjamin” at the Hamburg State Opera."
24. Juni 2018
Link: The New York Times - Critic’s Notebook

Im Gegenwind der Barbarei
"Peter Ruzickas neue Oper „Benjamin“ an der Staatsoper Hamburg uraufgeführt"
11. Juni 2018
Link: NMZ online

Wenn die Philosophie singt
"Das Leben eines Philosophen als Oper? Klingt gewagt. Peter Ruzicka dampft die Weltrevolution des Walter Benjamin auf der Opernbühne ein und transformiert sie ins Private. Großartig!"
4. Juni 2018
Link: Spiegel Online - Kultur

Vorwärts, und nichts vergessen
"Peter Ruzickas jüngste biografische Oper „Benjamin“ feiert an der Hamburgischen Staatsoper ihre umjubelte Uraufführung"
5. Juni 2018
Link: WELT kompakt - Hamburg

Uraufführung an der Staatsoper Hamburg
"Walter Benjamin für die Opernbühne adaptiert"
14. Juni 2018
Link: Osnabrücker Zeitung - Kultur

Das bewegte Meer ist kein Ausweg
"Eine Tat: Das Theater Heidelberg radikalisiert Peter Ruzickas Oper "Benjamin", indem die Inszenierung von Ingo Kerkhof Entsetzen und Verfremdung ..."
16. Februar 2019
PDF: Rezension Frankfurter Allgemeine Zeitung (Original-Link: FAZ)

Musiktheater mit Peter Ruzickas „Benjamin“ - In Heidelberg triumphiert endlich wieder eine ernstzunehmende Produktion
"Wenn Theorie zu Kunst wird"
11. Februar 2019
PDF-Datei: Rezension Mannheimer Morgen (Original-Link: Mannheimer Morgen)

Zerrieben zwischen Schriftstellerei und Flucht
"Preisverdächtig: Peter Ruzickas Oper "Benjamin" als Zweitaufführung in Heidelberg - Grandiose Gesamtleistung"
11. Februar 2019
Link: Rhein-Neckar-Zeitung - Kultur Regional


AKTUELLE SENDUNGEN 

02.07.2018
21:04-22:00 | sfb kulturradio
MUSIK DER GEGENWART: Peter Ruzicka zum 70. Geburtstag

Mit Andreas Göbel. Er zählt zu den erfolgreichsten Vertretern nicht nur der zeitgenössischen Musik, ob als Komponist, Dirigent oder Intendant. Ausgehend von der These, dass „wirklich neues musikalisches Material nicht mehr zur Disposition stehe, dass ein Vorwärtsdrängen des Komponisten in unbekanntes Neuland nicht mehr möglich sei“, schreibt Peter Ruzicka Musik über Musik als „allein noch mögliche Konsequenz einer kunsthistorischen Entwicklung“. Morgen, am 3. Juli, ist der 70. Geburtstag von Peter Ruzicka.

3. Juli 2018
21:00 bis 22:00 | NDR Kultur
neue musik: Fragmente aus der Zukunft – Zum 70. Geburtstag von Peter Ruzicka

Von Margarete Zander. Als Komponist, Intendant und Dirigent gestaltet Peter Ruzicka (geb. 3. Juli 1948) das internationale Musikleben des 20. Jahrhunderts kreativ und einflussreich mit. Er feiert die Schönheit der Musik fast vergessener Komponisten wie Allan Petterson oder George Enescu und gibt mit den verführerischen Klängen seiner Musik emotionale Denkanstöße. In der aktuellen Oper „Benjamin“ (um den Philosophen Walter Benjamin) geht es um existentielle Übergänge. Die Uraufführung war am 3. Juni 2018 in der Staatsoper Hamburg.

22:05 bis 23:00 | BR-KLASSIK
Horizonte – Zum 70. Geburtstag von Peter Ruzicka – Ein Porträt

Intendant der Salzburger Festspiele, Künstlerischer Leiter der Münchner Biennale für Zeitgenössisches Musiktheater, Dirigent, Komponist mit Aufträgen weltweit, Hochschulprofessor, Präsident der Theaterakademie und und und … Peter Ruzicka ist international einer der erfolgreichsten Orchester- und Festivalmanager sowie selbst schaffender Künstler – eine seltene Liaison. Derzeit arbeitet er an einer Oper für Hamburg, für die „musica viva“ im Herbst schreibt er ein neues Trompetenkonzert. Am 3. Juli feiert der gebürtige Düsseldorfer seinen 70. Geburtstag. Eine Sendung von Johann Jahn



PETER RUZICKA

Lichte Impulse und schattige Klänge in der Elbphilharmonie

Peter Ruzicka leitet in der Elbphilharmonie ein grandioses Konzert des Philharmonischen Staatsorchesters mit Rudolf Buchbinder am Flügel. Das Publikum dankt es mit lang anhaltenden Ovationen.

Die Erfahrung, angesichts der allgegenwärtigen Traditionslast vergangener Jahrhunderte „nichts eigentlich Neues mehr komponieren zu können“, die Peter Ruzicka als erster eingestand – der dirigierende Komponist scheint sie mit manch tonschaffendem Zeitgenossen zu teilen.

Auffallend ist jedenfalls, dass der komponierende Dirigent Hans Zender einen „Dialog“ mit dem Variationsthema aus Haydns Paukenschlag-Symphonie wagte, während sich Ruzicka „Metamorphosen“ über ein Klangfeld aus Haydns Oratorium über die Sieben letzten Worte Jesu hingab. Jörg Widmanns „Dunkle Saiten“ für Violoncello, Orchester und Frauenstimmen sind Schumanns Cellokonzert abgehorcht. Beispiele von „Musik über Musik“, die sich mühelos ergänzen ließen.

Während Zender solch komponierte Interpretationen als Zeugnisse „liebenden Verstehens“ ausgibt, spricht Ruzicka von Fortdenken, Annäherung, Erinnerung, Einschreibung oder Übermalung. Jüngst näherte er sich einem Klangbruchstück Richard Wagners, das von Ferne auf die Oper „Tristan“ und die Geschehnisse ihrer Entstehung verweist. Eine Liebeserklärung an Cosima?

Mit seiner „Erinnerung“ an diese 13 Takte, die Wagner am Vorabend seines Todes im venezianischen Palazzo Vendramin Freunden vorspielte, eröffnete Peter Ruzicka das Vierte Philharmonische Konzert in der Elbphilharmonie, zu dem ihm Kent Nagano den Dirigierstab überlassen hatte. Der geheimnisvollen Offenheit des Fragments entsprechend besetzte er seine Elegie mit 40 Solostreichern nebst drei Flöten und Schlagzeug, die dem fragilen Stück lichte Impulse und „Schattenklänge“ einschreiben.

Sein scheues Leben gewinnt es aus Anklängen des Tristan-Akkords und einem fragenden Violin-Motiv. In den letzten Jahrzehnten seines 70jährigen Schaffens, das der Hamburger Musikverlag Sikorski von Beginn an begleitete, nahm Ruzicka manch verwehte Spur der Musikgeschichte auf. Er nutzte sie als Komponist wie als Interpret, indem er der Welt zu hören und verstehen gab, was sie versäumte wahrzunehmen.

Man denke nur an den englischen Renaissancemeister Thomas Tallis oder den schwedischen Sinfoniker Allan Pettersson. Seine jüngste Leidenschaft gilt dem Rumänen George Enescu (1881-1955), dem er die zweite Hälfte seines Konzertprogramms vorbehielt.

Sein kompositorisches Rüstzeug erwarb der frühreife Violinvirtuose bei Jules Massenet und Gabriel Fauré in Paris. Sein rhapsodischer Tonfall aber, sein „Parlando rubato“, die in der rumänischen Volksmusiktradition der „Doina“ wurzeln (freirhythmischer, reichverzierter Liedgesang um Einsamkeit, Sehnsucht, Liebe und Bitternisse des Lebens, wie er in der „Gipsy Night“ des SHMF 2017 zu hören war) – sie sind in unseren Breiten so gut wie unbekannt. Offenkundig empfindet Ruzicka Artverwandtes in dessen Musik, wenn er bemerkt, bisweilen schiene es, als empfange sie „erst im Moment ihres Erklingens den Impuls zum Weitersprechen“.


Orchestrale Aphrodisiaka

Zwei unvollendet nachgelassene Orchesterwerke Enescus, die ein rumänischer Musikforscher erst Ende vorigen Jahrhunderts aufführungsreif instrumentierte, brachte Ruzicka dem staunenden Publikum mit den folgsamen, vielseitig geforderten Philharmonikern nahe: die Symphonische Dichtung „Isis“ (skizziert 1923, uraufgeführt 2004) und die Symphonie Nr. 4 (skizziert um 1934, uraufgeführt 1997).

Die altägyptische Göttin der Liebe verströmt sich in betörenden Vokalisen (Damen des Harvestehuder Kammerchors) und orchestralen Aphrodisiaka, die an Debussys Nocturne „Sirènes“ erinnern. Man hört: Paris wurde dem Komponisten zur Wahlheimat. Doch auch an den drei Sätzen der Symphonie fällt das eher assoziative als zielstrebig formschaffende Musikdenken des Rumänen auf.

Tongestalten und Stimmungsmomente halten sich in der Schwebe, gehen sanft ineinander über. „Übergänglich“ wirkt auch die Harmonik. Sie gewinnt ihre besondere Prägung aus der Symbiose byzantinischer Kirchentonarten, des geläufigen Dur-Moll-Systems und der erwähnten „Doina“ (improvisierende Vortragsweise, fluktuierende Quarte).

Lutz Lesle

DIE WELT, 19.12.2017



Preis der deutschen Schallplattenkritik


Bestenliste2011Hans Werner Henze: Being Beauteous /
Kammermusik 1958
- WERGO-CD auf der Bestenliste 2/2016 -

Die WERGO-CD mit Hans Werner Henzes „Being Beauteous" wurde in die Bestenliste des Preises der deutschen Schallplattenkritik aufgenommen.



Bestenliste 2-2016
Veröffentlicht am 18. Mai 2016

Klassisches Lied & Vokalrecital
Hans Werner Henze: Being Beauteous, Kammermusik 1958. Anna Prohaska, Peter Gijsbertsen, NDR Sinfonieorchester, Peter Ruzicka. Wergo WER 73342 (New Arts International)

Pünktlich zum neunzigsten Geburtstag von Hans Werner Henze hat die hinreißend ausdrucksstarke und idiomatisch präzise Sopranistin Anna Prohaska gemeinsam mit Peter Ruzicka und dem NDR Sinfonieorchester diese mustergültige Referenzaufnahme der Kantate „Being Beauteous“ vorgelegt. Zugrunde liegen der emphatischen Komposition von 1963, die kurze Koloraturarien in Variationen von Instrumentalquintetten einfasst, Verse von Arthur Rimbaud. Klarheit der Klangstrukturen zeichnet diese Einspielung aus, sie wird ergänzt durch Henzes „Kammermusik 1958“ nach Hölderlin, und auch hier überzeugt Ruzicka, selbst Komponist, einmal mehr als Dirigent. (Für die Jury: Christian Kröber)
Die Kantate "Being Beauteous" nach dem gleichnamigen Prosagedicht Arthur Rimbauds komponierte Henze 1963 unmittelbar nach seiner ersten USA-Reise. In Manhattan und Harlem hatte der Komponist das Aufeinanderprallen der Gegensätze von Arm und Reich erfahren.




Beijings Music Festival

27.10.2015

Peter Ruzicka dirigiert die chinesische Erstaufführung der "Gurrelieder" von Schönberg in Shanghai und Peking

YOU TUBE

https://youtu.be/29K-ZvztO1Q (Teil I)

https://youtu.be/m2Qg2TJgPsA (Teil II & III)

 

 

 


Märchenhafte Orient-Exotik

Peter Ruzicka dirigierte die Staatsphilharmonie Nürnberg

Für gewöhnlich dirigiert Peter Ruzicka nur dann, wenn auch ein Stück von ihm gespielt wird. Das kann zum doppelten Glücksfall werden: schon vor einem Dutzend Jahren bei der Aufführung seines Klarinettenkonzerts in Nürnberg, jetzt wieder bei der Staatsphilharmonie mit Inseln, randllos...“, dem Solitär mitten in einem überaus stimmigen Programm. Das begann in der Meistersingerhalle mit dem Grundsatzstück der Musik des 20. Jahrhunderts: Charles Ives und seinem Klangflächenexperiment „The Unanswered Question - Musik, die keinen Fortlauf kennt, aber unter Ruzicka mit außerordentlicher Differenziertheit gespielt wurde. Man hörte, wie gut ein konzentriert vorbereiteter Dirigent dem Orchester tut. An die Paradoxie der „unbeantworteten Frage“ knüpft er mit seinem Insel-Paradoxon für Violine, Kammerchor und großes Orchester an: Kann es eine „randlose Insel“ überhaupt geben? Klanginseln mit schier unendlichen orchestralen, solistischen, vokalen Ausdrucksmöglichkeiten offenbar schon. Geigerin Tanja Becker-Bender knüpft an das stille Heraufdämmern von Klang bei Charles Ives deutlichst an: für das einsätzige 25-Minuten-Ruzicka-Stück ein denn doch verortbarer Anfang, dem Klang- und/oder Rhythmusinseln in verschiedenster Besetzung und Intensität folgen.

Faszinierend hört sich das mit der fabelhaft auf das Stück eingestellten Solistin, der klanggewaltigen und dennoch präzisen Staatsphilharmonie und dem mittendrin sitzenden „Vokalwerk“-Chor an. Und ist irgendwie wie ein Blick aus 11000 Metern Flughöhe, wo Inseln, Meer, Land eine ähnliche Dynamik und Flächigkeit vermitteln. Peter Ruzicka lenkt dieses allen Assoziationen offene Stück jenseits aller Beliebigkeit souverän zu den leisen Anfängen zurück: doch eine kreisrunde Insel mit Rand?

Es gab kein einziges Verlegenheitsfüllsel an diesem philharmonischen Abend. Mit Joseph Haydns Symphonie Nr. 99 spielte man ein bei dem intellektuell wachen Dirigenten besonders beliebtes Stück. Ruzicka formte samt der prächtig mitspielenden Staatsphilharmonie dabei ein Artikulationswunder nach dem anderen und zum Schluss des erst zögernd angenommenen, darin aber heftig beklatschten Abends das Klangwunder einer „Sinfonischen Fantasie“ von Richard Strauss: 1946 mit Motiven seiner Oper „Die Frau ohne Schatten“ für die Besetzungsmöglichkeiten konzipiert, die man im Nachkriegseuropa hatte. Strauss hat sie in London selbst dirigiert, vor ein paar Jahren hat Ruzicka sie in die originale Klangfülle der 1919 uraufgeführten Oper zurücktransponiert. Die spürbar herausgeforderte Staatsphilharmonie gab der märchenhaft-orientalischen Exotik wie auch dem üppig strömenden Streicher-Lobpreis von Ehe und Elternschaft |beredten Ausdruck und lieferte eine der Spitzenleistungen dieser Saison ab. Ruzicka sei Dank.

Uwe Mitsching
Nürnberger Nachrichten, 23. März 2015


 

Peter Ruzicka übernimmt als Intendant die Osterfestspiele Salzburg

Von SN | 24.10.2014

Ex-Festspielintendant Peter Ruzicka wird ab 2015 die künstlerische und kaufmännische Geschäftsführung der Osterfestspiele Salzburg übernehmen.

Peter Ruzicka übernimmt die Salzburger Osterfestspiele
Eliette von Karajan freut sich mit Christian Thielemann (links) und Peter Ruzicka.
BILD: SN/NEUMAYR

Dies beschlossen Aufsichtsrat und Gesellschafterversammlung am Freitag einstimmig. Peter Ruzicka wird somit der Nachfolger von Peter Alward und Bernd Gaubinger, die beide noch bis nächstes Jahr im Amt sein werden. Über die Laufzeit von Peter Ruzickas Vertrag, über die Übergangsregelungen und andere Details werde noch verhandelt, sagte der Aufsichtsratsvorsitzender der Osterfestspiel GmbH, Hans Scharfetter (ÖVP).

Peter Ruzicka folgt auf Peter Alward und Bernd Gaubinger, letztgenannter soll seine Tätigkeit noch bis zum 31. Dezember 2015 fortführen, um einen fließenden Übergang zu gewährleisten. Über die Details und Laufzeit von Ruzickas Vertrag werde laut dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Osterfestspiel GmbH, Hans Scharfetter (ÖVP), noch verhandelt. Laut Osterfestspiele hat sich Ruzicka nach einer internationalen Ausschreibung in einem mehrstufigen Auswahlverfahren gegenüber weiteren hochkarätigen Bewerbern durchgesetzt und die Generalversammlung durch seine Vorstellungen zur Zukunft der Osterfestspiele überzeugt.

Künstlerisch hauptverantwortlich wird weiterhin Christian Thielemann bleiben, der Chefdirigent der Staatskapelle Dresden, die seit dem Weggang der Berliner Philharmoniker das Festival künstlerisch trägt. Thielemann streute seinem neuen geschäftsführenden Intendanten heute bereits Rosen: "Peter Ruzicka ist eine hervorragende Wahl. Wir kennen uns seit Jahrzehnten, und ich schätze ihn nicht nur als außergewöhnlichen Künstler, sondern auch als klugen Ratgeber." Man habe für die Osterfestspiele jemanden gesucht, der den Spagat zwischen programmatischer Kulinarik und intellektuellem Anspruch beherrscht und zugleich ausgewiesene Management-Fähigkeiten mitbringt. "Dass Peter Ruzicka dazu in der Lage ist, hat er in den letzten Jahrzehnten - nicht zuletzt schon in Salzburg - eindrucksvoll unter Beweis gestellt."

Erfahrung als Kulturmanager hat der 66-jährige Düsseldorfer Ruzicka mehr als genug: Immerhin war er von 2002 bis 2006 Intendant der Salzburger Festspiele. Für Salzburg hat er nicht nur mit einer Opernserie der sogenannten Exilkomponisten wie Erich Korngold oder Alexander Zemlinsky Aufsehen erregt. Ruzicka hat zudem das Riesen-Projekt "Mozart 22" im Jahr 2006 organisiert, bei dem im 250. Geburtsjahr Mozarts sämtliche 22 Bühnenwerke in einer Festspielsaison zur Aufführung gebracht wurden.



 

Enescu & Ruzicka: Zwei Ersteinspielungen


Mit der Deutschen Radio Philharmonie, dem NDR Chor und dem Tenor Marius Vlad dirigiert Peter Ruzicka die Deutsche Erstaufführungen der 5. Sinfonie von George Enescu für Tenor, Frauenchor und Orchester aus dem Jahr 1941 und "Isis", ein symphonisches Adagio. Die zwei Werke des Rumänen George Enescu, die in keine Schublade passen, existierten nur als Particell. In den 90ern wurden sie von Pascal Bentoiu ausgearbeitet und instrumentiert, so dass ihm wohl in hohem Maße eine Co-Autorenschaft zuzuschreiben ist. In "Isis", einem symphonischen Poem für Frauenchor und Orchester, sind die wohlklingenden Frauenstimmen wie Instrumente ins Orchester integriert. Die fünfte Symphonie ist mit gesteigerter Musikerzahl klangstark und folkloristisch getönt. Fesselnd! Aber „trotz des Einsatzes eines groß besetzten Orchesters erreicht Enescu hierbei durchweg eine fast kammermusikalische Transparenz. Subtilste Klangabmischungen stellen eine besondere Spannung zwischen der Komplexität des musikalischen Augenblicks und der unbestimmten Erwartung des Kommenden her. Enescus „tönend bewegte Formen" verbinden sich zu einer gleichsam unendlichen Melodie, die später, im vierten Satz, noch die menschliche Stimme hinzutreten lässt. Die Vertonung des Gedichtes von Eminescu erscheint wie von Ferne herüberzuklingen und ist doch geprägt durch ihre klangliche Verwobenheit mit einem höchst farbenreichen Orchesterpart, der musikalische Gestalten der früheren Sätze wieder aufgreift." (Peter Ruzicka)

Quelle: www.jpc.de (Stand: 23.06.2014)





Enescu: Sinfonie Nr. 5
+ Isis

Marius Vlad (Tenor)
Deutsche Radiophilharmonie Saarbrücken/Kaiserslautern
NDR Chor
Peter Ruzicka (Leitung)
cpo

BARTÒKS BRUDER

Wichtiger als sämtliche Mahler-Remakes der letzten Jahrzehnte: Peter Ruzicka mit George Enescus Fünfter von 1941. George Enescus Fünfte (1941) liegt im Particell vor, zwei Drittel des Kopfsatzes hat er selbst instrumentiert, den Rest besorgte Pascal Bentoiu auf derart beeindruckende Art, dass das Wort ‚kongenial‘ fast einer Beleidigung gleichkäme. Atemraubend auch, wie die Interpreten Enescus Musik erfassen, diese Landschaften im Abendlicht mit tief glühenden Farben, langen Schatten, untergründig raunenden Stimmen. Leidenschaftlicher, hingerissener Abgesang auf eine Welt, deren geistige Essenz die sinnliche Schönheit ist. Isis (1923), ebenfalls unvollendet, benutzt die gleichen Beschwörungsformeln. Enescu war modern, aber nicht avantgardistisch im akademischen Sinne, kein Konstrukteur, sondern ein Naturereignis. Seine Schöpfungen sind von absoluter Singularität, ohne Vorbilder, ohne Nachfolger. Höchste Zeit, dass wir ihn endlich als Bartóks Bruder erkennen.

concerti - Juli/August 2014 - Volker Tarnow


KUNSTKLANG

Eine bessere und stilgetreuere Interpretation dieser Werke lässt sich kaum vorstellen. Die Einspielung der Werke durch die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken ist eine wahre Entdeckung und eine Tat, die Peter Ruzicka zu danken ist. Sie stellt dem Orchester ein bestes Zeugnis aus. Stern des Monats!

Fono Forum - September 2014  - Giselher Schubert



Romantisch und überraschend

Das Musikkollegium Winterthur hat beim fünften Sinfoniekonzert mit romantischen und zeitgenössischen deutschen Werken überzeugt. Und einer Überraschung zum Schluss.

Man glaubt vielleicht, Wagner und Beethoven zu kennen. Musik, in die man eintauchen kann. In die warmen romantischen Klänge. Wie unwahr diese Vermutung ist, beweist das Gastorchester Musikkollegium Winterthur eindrücklich unter der Leitung von Peter Ruzicka im Rahmen des fünften Sinfoniekonzertes der Saison.

Der Abend verspricht eine Reise durch 200 Jahre deutsche Musik. Das Publikum wird gleich zu Beginn auf einen Spaziergang abgeholt. Die sanften Klänge von Richard Wagners «Siegfried-Idyll» in E-Dur malen eine wunderbare ruhige Landschaft in den Konzertsaal. Diese Eindrücke erlebt der Zuhörer wohl nicht zufällig, denn das 1870 entstandene Stück schrieb Wagner in Tribschen am Vierwaldstättersee, wo er mit seiner Frau Cosima von 1866 bis 1872 gelebt hatte. Es ist ein sehr persönliches Stück. Eine intime Liebeserklärung an seine Frau.

Abrupt bricht der Dirigent Ruzicka mit seiner Eigenkomposition «Aulodie für Oboe und Kammerorchester» die wagnersche Idylle. Lauter und heftiger beginnt das Werk, das sieben emotionale Zustände widerspiegelt - angelehnt an das antike Rohrblasinstrument Aulos, das im Mittelalter bei Festen, Kriegsgesängen oder Totenklagen gespielt wurde. Neben dem kompakten Streicherklang wird Albrecht Mayers Solo-Oboe von einer Harfe, drei Schlagzeugen, einem Klavier und einer Celesta begleitet. Keine Blasinstrumente. «Diese Besetzung war, bevor ich überhaupt den ersten Ton notiert hatte, von Anfang an unverzichtbar», so Ruzicka. Und es funktioniert. Der helle transparente Klang von Mayers Oboe wird durch die Streicher kontrastiert, durch die Tasten- und Schlaginstrumente unterstützt. Das Publikum scheint diese ungewohnte Formation und die fremden Klänge interessiert aufzunehmen. Dies liegt wohl nicht zuletzt an der hohen Präzision des Orchesters und der spürbaren Freundschaft zwischen Dirigent und Solist. So verwundert nicht, dass Ruzicka das Stück 2011 für Mayer komponiert hatte. «Er hat es mir auf den Leib geschrieben. Eine grosse Ehre», sagt Mayer. «Dass Ruzicka selber Oboist ist, macht es natürlich nicht einfacher, denn er weiss ganz genau, was mit dem Instrument alles möglich ist.» Die Aulodie ist schwierige Musik. Umso überwältigter ist Mayer über die grosse Konzentration im Saal. «So still ist ein Publikum in Berlin nie», sagt er lachend, bevor er die Zugabe von Johann Sebastian Bach - in Erinnerung an den gerade erst verstorbenen Dirigenten Claudio Abbado - spielt.

Nach der Pause wird das Publikum mit Ludwig van Beethovens Sinfonie Nummer 4 in B-Dur, op. 60 wieder abgeholt. Zwar beginnt die Sinfonie in Moll, langsam und schwer, jedoch bleibt das Gesamtwerk nach dem Schlussakkord als frisch, leicht und fröhlich in Erinnerung. Ein guter Schluss könnte man meinen. Aber dem ist nicht so. Ruzicka hat sich dazu entschieden, nach der knapp 40-minütigen Sinfonie noch einen zweiten Beethoven zu spielen. Einen unbekannteren. Die «Grosse Fuge» in B-Dur, op. 133. Und diese Fuge überrascht. Sie wirkt nahezu modern. Der treibende Fugen-Charakter wird immer wieder von wirrem Durcheinander unterbrochen. Wollte man nach der Sinfonie beglückt nach Hause gehen, muss man nun noch einmal alle Sinne anstrengen, um der komplexen Komposition folgen zu können. Das Musikkollegium meistert dieses schwierige Werk bravourös. Ein Feuerwerk von Klängen. Ein überraschender Schluss für die Reise durch 200 Jahre deutsche Musik. Oder wie Ruzicka sagt: «Ein Griff zu den Sternen». Von einem Komponisten, den man normalerweise als Wegbereiter der Romantik kennt.

Vera Urweider, Bieler Tagblatt, 26. Januar 2014



Meister der souveränen Mehrgleisigkeit

Peter Ruzicka wird 65. Nächstes Jahr wird er noch einmal die Münchner Biennale leiten, dann schreibt er eine Oper.

Die Münchener Biennale, Deutschlands berühmtes Festival für Neue Musik, wird er 2014 ein letztes Mal anführen. Aber dann will Peter Ruzicka, der heute 65 Jahre alt wird, es noch einmal so richtig krachenlassen. Es soll alles "Außer Kontrolle" geraten. "Es wird Stücke geben, in denen es regelrecht explodiert", sagte Ruzicka.

Am spektakulärsten ohne Zweifel im Werk eines jungen Serben, der den schockierenden Mord an dem kanadischen Komponisten Claude Vivier zur Vorlage hat. Den hatte 1983 ein 19-jähriger Stricher erstochen. An Experimentierlust und Innovationswillen hat es Ruzicka nie gemangelt. Er erwarb sich früh Ruhm als ein Meister der souveränen Mehrgleisigkeit. Mit 19 siegte er auf dem Feld der Naturwissenschaften beim Bundeswettbewerb "Jugend forscht". Da hatte er seine musikalische Ausbildung (Oboe, Klavier, Komposition) bereits hinter sich. Und während er erste Triumphe als Komponist feierte, absolvierte er ein Jura-Studium, um sich nach der Promotion als Urheberrechts-Experte hervorzutun.

Auch als Musikmanager hat er besondere Qualitäten bewiesen. So machte er sich als Intendant der Hamburger Staatsoper (1988-1997) und als Chef der Salzburger Festspiele (2001-2006) für das Musiktheater stark, aber auch für die Opern lange verpönter Komponisten wie Schreker oder Zemlinsky.

Zum Finale seiner Salzburger Amtszeit, im Mozart-Jubiläumsjahr 2006, setzte er gegen massive Kritik sämtliche Opernwerke Mozarts aufs Programm: ein triumphaler Akt aufgeklärter Mozart-Hommage.Was sein eigenes Werk betrifft, so will Ruzicka nach der Biennale 2014 eine dritte Oper schreiben, die seinen Werken "Celan" (2001) und "Hölderlin" (2008) würdig zur Seite stehen kann. Titel und Thema sind noch offen. Unter dem Titel "Nach-Zeichnungen" erscheint in diesen Tagen Habakuk Trabers Monografie zu Ruzickas Werken.

Als "Composer-Conductor" wird er in Zukunft primär seine eigenen Werke betreuen. Vornehmlich am Pult großer Radio-Sinfonieorchester. Doch dirigiert er auch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg bei einer Wagner-Hommage im November. Dort wird dann nicht nur Wagners C-Dur-Sinfonie zu hören sein, sondern auch seine Wagner-Paraphrasen "Über Unstern" und "R. W.": Übermalungen später Liszt'scher Klavierwerke. "Das sind Stücke, die völlig aus der Zeit gefallen sind. Mich hat das Weiterwirken dieser Stücke interessiert, ihr utopisches Potenzial."

(dpa, 3. Juli 2013)


 

Wie ein Gebet

Jörg Widmann und Peter Ruzicka beim DSO


Zwei Komponisten unserer Tage treffen aufeinander, um das letzte Instrumentalkonzert von Mozart aufzuführen. Was sich dabei in der Philharmonie ereignet, ist musikalisches Glück. Beide Musiker sind dem Deutschen Symphonie-Orchester verbunden, Peter Ruzicka als ehemaliger Intendant, der es nun dirigiert, und Solist Jörg Widmann als ehemaliger Composer in Residence. Auch ist aus ihren Werken und ihrem Musizieren zu hören, dass beide sich auf die Klangwelt ihres Lehrers Hans Werner Henze besinnen.

Jüngst erfolggekrönt mit einem riesigen Projekt, der Münchner Uraufführung seiner Sloterdijk-Oper „Babylon", findet Widmann sich hier auf den Klarinettenpart Mozarts konzentriert. Er spielt ihn mit einer feinen, quasi improvisatorischen Flexibilität des Ausdrucks, der Komponist als Interpret. Das Adagio wird zum Gebet, mit gleichem Atem folgt das Orchester, dienend und anregend.

In seinen „Clouds", einer Neufassung mit Streichquartett, begibt sich Ruzicka vor einer meterhohen Partitur mit den Musikern auf die Suche nach einem imaginären Klang, erspürt mit Überdeckungen, Ansätzen, tonalen Inseln.

Das Wagnerjubiläum ist in diesem Mai unumgänglich. Mit der C-Dur-Symphonie des 19-Jährigen gesellt sich das DSO zur Leipziger Oper, die vor dem „Ring" als Rarität „Die Feen" herausbrachte. Als „ebenso jugendliches wie unjugendliches Werk" (Paul Bekker) verrät die Instrumentalmusik mit viel Nachahmung und großer Gebärde, dass schon der Anfänger kein Aphoristiker ist.

Sybill Mahlke, Tagesspiegel, Berlin, 6. Mai 2013


 

Lichte Harfe, grollendes Schlagzeug

Peter Ruzicka und die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen im Feierabendhaus. Albrecht Mayers fulminantes Oboensolo


Einen Glanzpunkt hat das vierte Konzert der BASF-Kammermusikreihe der laufenden Saison gesetzt. Der Abend im Ludwigshafener Feierabendhaus mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und Peter Ruzicka am Pult stand im Zeichen profiliertester künstlerischer Ansprüche. Ein faszinierendes Kapitel für sich stellte zudem Albrecht Mayers großartiges Oboensolo dar. Ruzicka, eine der prägendsten Persönlichkeiten des heutigen Musiklebens, präsentierte sich diesmal in doppelter Eigenschaft: als Komponist und musikalischer Leiter des Abends.

Der erste Teil des Konzerts klang mit seiner „Aulodie" für Oboe und 20 Streicher, drei Schlagzeuger, Harfe, Klavier und Celesta aus. Der Titel des Kammerkonzerts ist eine Anspielung auf den Aulos, ein altgriechisches Blasinstrument für feierliche Gelegenheiten. Albrecht Meyer, seines Zeichens erster Oboist der Berliner Philharmoniker und international gefeierter Solist, hatte auch schon bei der Uraufführung des Werks 2011 beim Schleswig-Holstein Musikfestival mitgewirkt.

Nach der Pause stellte er dann eine Rarität vor, ein Fragment von Mozart: Adagio in F-Dur für Englischhorn und Streicher (KV 580a). Umrahmt wurden die beiden konzertanten Stücke von zwei Instrumentalwerken der beiden Operngiganten des 19. Jahrhunderts, Wagner und Verdi, deren 200. Geburtstag die Musikwelt in diesem Jahr feiert. Zu hören waren Wagners „Siegfried-Idyll" und Verdis einziges Streichquartett (in e-Moll) in einer Fassung für Streichorchester.

Zurück zur „Aulodie". Die siebenteilige Musik für Streicher und Oboe (Ruzicka spricht von sieben ineinander übergehenden Szenen) ist einem abgeklärten, wenn man will klassizistisch modernen Stil verpflichtet. Ihr Aufbau ist schlüssig, transparent, wobei zu jeder „Szene" die gleiche musikalische Figur den Auftakt gibt. Sich in weit gespannten Melodiebögen entfaltenden expressiven Kantilenen des Soloinstruments stehen hektische Bewegungen der Streicher in fragilem Pianissimo, dumpfes Grollen in der Schlagzeuggruppe und zarte, lichte Harfentöne entgegen. Die Grundstimmung erscheint lyrisch und zeugt von der vornehmen Inspiration des Werks, das den beredtesten Dokumenten zeitgenössischen Komponierens zugezählt werden darf. Albrecht Mayer gestaltete den Solopart ungemein bravourös, spielerisch unfehlbar, und demonstrierte mehr als beeindruckend den Schattierungsreichtum und den anmutigen Reiz des Oboenklangs. Was er dann beim Mozart-Fragment ebenfalls auf überaus stilvolle Art tat.

Ruzicka erwies sich auch als höchst kompetenter Vertreter des Dirigentenfachs. Seine Zeichengebung war ebenso deutlich wie suggestiv und beredt. Er disponierte durchweg differenziert, setzte auf eindringliche musikalische Diktion, bei fein ausgehörten Abstufungen und Details der Phrasierung und Artikulation. Wobei vor allem der optimal austarierte und sanglich abgerundete Streicherton sehr gefiel.

Gabor Halasz, Rheinpfalz 13. April 2013


 

Peter Ruzicka - Composer in Residence beim "Brücken Festival" Rostock

25.11.-2.12.2012


Im Brücken-Festival wurden die sechs Streichquartette von Peter Ruzicka, des diesjährigen Composers in Residence, aufgeführt. Ein Ereignis von herausfordernder Intensität und von doppelter Meisterlichkeit. Die En-bloc-Aufführung dieser Streichquartette aus einem Zeitraum von fast vierzig Jahren ließ ihren inneren inhaltlichen und technischen Zusammenhang deutlich hervortreten, die kompositorische Meisterschaft, mit der sich Ruzicka hier in gleichsam stiller Unerschrockenheit den Untergründen unserer Kultur stellt: eine "Musik des Schweigens", die an jene weiße Leere rührt, die unterhalb des heutigen unermüdlichen Rede- und Klangstromes lauert. Die luzide musikalische Meisterschaft des Minguet Quartetts mit atemberaubender federnder Präzision macht selbst im hohen Tempo in rhythmischen Verzwickungen die unerhörte Klangsensibilität für Ruzickas Klangprofile aus vielfach geschichteten Flageolette, Glissandi, Tremoli und Spaltklängen, selbst aus dem Anstreichen der Zarge, einem dynamischen Wunder, deutlich.

Peter Ruzicka, der auch ein erfahrener und renommierter Dirigent ist, hatte im Abschlusskonzert die Leitung der Norddeutschen Philharmonie übernommen und inspirierte sie zu einer konzentrierten und eindrucksvollen Leistung. Ruzickas NACHTSTÜCK und ...DAS GESEGNETE, DAS VERFLUCHTE, auch sie sind Werke des Abschieds von jener Hoffnung, die die europäische Musik seit mehr als 200 Jahren trug, die Disparitäten und Widersprüche von Welt und Leben wenigstens im ästhetischen Raum, in der zielgerichteten Geschlossenheit eines Werkes, auflösen zu können. Seine prägnanten Orchesterskizzen sind gleichsam stehen gelassene Kontradiktion, unaufhebbar und schließlich im Schweigen verschwindend, in einer fantasievollen, außerordentlich eindringlichen Klangsprache, fremd und faszinierend, unbekannte Ausdrucksräume ertastend und unserer Erfahrung anbietend.

Eine andere Seite präsentierte die Philharmonie im abschließenden Werk, die Fantasie aus der Oper "Die Frau ohne Schatten" des Orchestermagiers Richard Strauss. Ruzicka entfaltete hier die Klangkultur des Orchesters zu einer fast rauschhaften, dennoch kontrollierten spätromantischen Farbigkeit, die Interpretation fast meisterlicher als die Substanz der Musik, die sich hier in dem farbenprächtig schillernden Ornat des Symbols hüllt.

Heinz-Jürgen Staszak, Ostsee-Zeitung, 1./2./3. Dezember 2012


Orchesterwerke Vol1








VORECHO, Acht Ansätze für großes Orchester

NACHKLANG, Spiegel für Orchester

MEMORIAL PER G.S. für Orchester

NACHTSTÜCK (-AUFGEGEBENES WERK) für Orchester

NDR Sinfonieorchester, Leitung: Peter Ruzicka


Eine faszinierende Musiksprache unserer Zeit, präzise und idiomatisch gesprochen vom NDR-Sinfonieorchester. Es lässt die Klänge aus dem Nichts erstehen und wieder in diesem versinken, schweift suchend umher, wärmt sich auf seltenen tonalen Inseln und kann, wenn verlangt, auch ein Trommelfeuer-Staccato abschießen.

Musik *****, Klang****
FonoForum, April 2012


As has been demonstrated on many CDs, Ruzicka is a superb conductor. The orchestra is excellent, so we can assume the composer is getting evcrything he wants from these performances. The recorded sound is dark, reverberant, and lush. This is a magnificent disc.

Fanfare (USA), April 2012


Diese Folge der Ruzicka-Reihe von NEOS kann mit ansprechenden, ausdrucksstarken Werken aufwarten. Die klangliche Darstellung darf als exemplarisch bezeichnet werden.Peter Ruzicka ist eine Persönlichkeit, wie es nur wenige in einem Jahrhundert gibt. Profilierter Komponist, begabter Dirigent, bedeutender Intendant und Kulturmanager – seine vielfachen Fähigkeiten rufen schnell seinen Vorgänger als Intendant der Hamburgischen Staatsoper Rolf Liebermann in Erinnerung, der vergleichbare Fähigkeiten in sich vereinte. So ist es angemessen und erfreulich, dass der NDR in Kooperation mit der Fundación BBVA und dem Plattenlabel NEOS eine CD-Edition von Orchesterwerken Ruzickas angeht.

Aus zehn Jahren stammen die hier vorgelegten vier Werke, von 1997–2006. 'Nachklang' (1999) entstand unmittelbar nach Abschluss der Oper 'Celan', verwandelt Orchesterpassagen derselben und entwickelt neue Perspektiven auf das Material, das teilweise aus konventionellen Kadenzen zu bestehen scheint. Zunächst meint man, die CD sei beschädigt, da die Musik immer wieder nahezu dem Nichts entsteigt. Das in 'Szenen' unterteilte 'Vorecho' (2005-6) bezeichnete Ruzicka als Vorstudie zur Oper 'Hölderlin', das es immer wieder beherrschende choralartige Thema ähnelt dem Kopfthema der Zehnten Sinfonie Gustav Mahlers. Eine Art musikalische Stele ist das 'Memorial per G. S. ', entstanden anlässlich des Todes des Freundes Giuseppe Sinopoli 2001. 'Nachtstück' (1997; den Beititel ‚(– aufgegebenes Werk' erläutert der Booklettext nicht) ist vielleicht eine Steigerung der drei zuvor dargebotenen Werke, in herrlich klar strukturierter symphonischer Bogenform.

Ruzickas Fähigkeiten, logische, sorgsam ausgearbeitete Spannungsbögen auch über längere Strecken hin zu entwickeln, seine Raffinesse der Instrumentierung, sein Gespür für Stimmungen, Spannungen und Entspannungen, Schattierungen und Aufhellungen, für Klang- und Geräuschflächen, für Melodiegestaltung und Kontrapunktik, für virtuose und emotionale Klanggestalten, für Intimität und offene Ausbrüche – all dies wird in den vier hier vorliegenden Werken in unterschiedlichster Weise erkundet und offenkundig. Die Aufnahmen mit dem NDR Sinfonieorchester unter der Leitung des Komponisten sind von exemplarischer Qualität. Das Orchester, das seit Längerem nicht mehr so stark auf dem Tonträgermarkt präsent ist, zeigt sich in Höchstform; es ist offenkundig, dass es keine Elbphilharmonie benötigt, um herausragende Interpretationen abzuliefern. Die Aufnahmetechnik ist sehr gut, und die Genauigkeit, mit der Ruzicka die Werke erarbeitet hat, entspricht dem heute üblichen Höchststand für Musik des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts.

Interpretation: *****
Klangqualität: ****
Repertoirewert: *****

klassik.com - Dr. Jürgen Schaarwächter, 16. August 2012


 

Schöner Götterfunken, unklassisch entzündet

Symphoniker brillieren mit Beethoven


Schlamperei und Schlendrian der nachschöpferischen Kunstproduktion trotzend, galt für Gustav Mahler die Devise: "Tradition ist nicht Anbetung der Asche, sondern Weitergabe des Feuers." Wenn der große Komponist dirigierte, wollte er seinen Mozart, Beethoven oder Wagner fürwahr zu neuem Leben erwecken. Es ging Mahler nicht um Denkmalpflege dieser musikalischen Heroen, sondern darum, die Essenz ihrer Botschaft zu vergegenwärtigen - mit seinen eigenen Augen und Ohren und mit den instrumentalen und klanglichen Möglichkeiten seiner eigenen Zeit.

Gustav Mahler, dessen Bearbeitung der "Symphonie Nr. 9 d-Moll" von Ludwig van Beethoven die Hamburger Symphoniker zu Silvester und Neujahr in der Musikhalle spielten, vertrat damit die dezidierte Gegenposition zu jener historischen Aufführungspraxis, wie sie heutzutage zum guten Ton gehört: Sir John Eliot Gardiner, Frans Brüggen oder Nikolaus Harnoncourt gehören zu den prominenten Vertretern dieser Schule.

Suchen diese Dirigenten also nach einer Authentizität, die sie in der Rekonstruktion des mutmaßlichen originalen Klangs finden möchten, gleicht die Haltung Gustav Mahlers vielmehr dem Ansatz vieler Opern- und Schauspielregisseure der Gegenwart: Deren interpretatorische Mittel schließen Verfremdungseffekte, bildliche Zuspitzungen und ganz neue Akzentuierungen ein.

Im besten Fall geht es ihnen dabei nicht um effekthaschende Provokation, sondern um die verantwortungsbewusste Übersetzung alter Geschichten in den Erfahrungshorizont der Menschen von heute. Wo das Neulesen der Musiktheaterregie mitunter indes gar die Dekonstruktion so mancher Opern-Heiligtümer mit sich bringt, nannte Mahler seine Eingriffe lediglich "Retuschen". Dennoch modernisierte er den Klang ganz deutlich und entschieden. So auch am 11. März 1895, als Mahler als damaliger Erster Kapellmeister des Hamburger Stadt-Theaters erstmals Beethovens "Neunte" in eigener Fassung zur Aufführung brachte. Später sollte er seine Lesart der Sinfonie auch in Prag, Wien, Straßburg und New York vorstellen.

Jetzt holte Peter Ruzicka die Bearbeitung zurück in die Hansestadt. Der dirigierende Komponist und erfolgreiche Hamburger Staatsopernintendant der 90er-Jahre erweist sich als ein überaus kompetenter Anwalt von Mahlers Beethoven-Anverwandlung. Ruzickas distinguiertem Habitus entspricht sein präziser Schlag und sein unsentimental klares, auf Deutlichkeit dringendes Dirigat. Er wählt durchweg moderate, wenn nicht gemächliche Tempi und bringt so ganz anderen Schichten des Werks zum Vorschein als kürzlich am selben Ort John Eliot Gardiner mit seinem furiosen Sturm und Drang-Zugriff. Das Maestoso des Eingangssatzes mit seinem mystischen Flirren der Streicher rückt Ruzicka ganz im Geiste Gustav Mahlers in die Nähe eines romantischen "Bruckner-Nebels". Auch die langen Steigerungszüge lässt er von den Symphonikern breit ausmusizieren. Die von Mahler perkussiv gesteigerten Schicksalsschläge des Satzes kommen demgegenüber mit besonderer Wirkungsmacht zum Ausdruck. Nicht ganz so gelungen hingegen das folgende Molto vivace. Denn das Manisch-Getriebene des zweiten Satzes ist deutlich gemilderten Schärfen gewichen: Statt musiktheatralischer Dramatik setzt Ruzicka auf den gelösten Ton eines epischen Musizierens.

Eben das passt dafür bestens zum Cantabile des Adagios. Dieses Idyll mit seinen pastoralen Holzbläserinseln und seidenglänzenden Violinen weist in solcher Lesart bereits auf die langsamen Sätze Mahlers voraus. Eine der glücklichsten Veränderungen dieser Fassung bleibt dem Finale vorbehalten: Den türkisch kolorierten Marsch mit seinem Tenorsolo "Froh, wie seine Sonnen fliegen" verlegt Mahler nämlich von der Bühne ins Off: Der Effekt eines Fernorchesters, den der Komponist in seinem Werk selbst gern einsetzte, wirkt famos, entspricht er doch ganz der eminenten Theatralik des Schillers Freudenode musikalisch in Szene setzenden Finales. In dem trumpft der groß besetzte Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor mit symphonischer Prachtentfaltung auf. In den Jubel stimmen ein: das von Claudia Barainsky mit superb intoniertem Sopranstrahl angeführte Solistenquartett. Und natürlich die mahlerianisch erweiterten Blechbläsergruppen, die die Freude, schöner Götterfunken, ihrerseits ganz unklassisch intensivierend entzünden.

Peter Krause, DIE WELT, 2. Januar 2012


 

Ein Prüfstein für das Publikum

Dirigent Peter Ruzicka und das Shanghai Symphony Orchestra


Der Dirigent Peter Ruzicka hat gestern Abend zum ersten Mal als Dirigent in Shanghai sein neues Werk „Über Unstern" mit dem Shanghai Symphony Orchestra aufgeführt. Obwohl es sich um ein avantgardistisches Werk handelt, waren die Zuhörer während der 10-minütigen Aufführung ruhig. Sie haben der Musik genau zugehört. Nach dem Konzert sagte der deutsche Dirigent mit Freude: „Bevor ich in Shanghai ankam, war ich häufig wegen dieser Programmauswahl unsicher. Das Ergebnis dieses Abends ist erstaunlich und außergewöhnlich positiv. Ich habe den Eindruck, dass die Shanghaier Musikfreunde tolerant sind und die Bereitschaft haben, verschiedenen Musikstilrichtungen und Ästhetiken zu begegnen".

Anfang letzten Monats hat Peter Ruzicka mit dem MDR-Rundfunkorchester sein Werk „Über Unstern" in Leipzig uraufgeführt. Am gestrigen Abend hat das Publikum gesehen, dass knapp 100 Musikern für dieses 10minütige Stück in einem Orchester eingesetzt wurden: acht Hörner, mehr als 15 verschiedenen Schlagzeuginstrumente. Als Peter Ruzicka seine Arme bewegte, tönte das Orchester mitunter mysteriös, mitunter groß und mächtig. Es scheint, als ob das Thema der Musik von einer geheimnisvollen Schale umhüllt wurde, sodass man sich zwangsläufig bemüht, die Absicht des Komponisten zu entschlüsseln.

Das Stück „Über Unstern" ist eine „Konzept-Komposition. Weil Peter Ruzicka den Orchestermusikern seine Idee und den Sinn der Musik bei der Probe ausführlich erläutet hatte, konnte das Orchester als ein Team das Werk richtig interpretieren.

Nach diesem anstrengenden Hörerlebnis hörten die Leute mit Erleichterung Beethovens D-Dur-Violinkonzert mit Ryu Goto.

Nach der Pause kam das Orchester wieder in voller Besetzung und spielte Strawinskys „Le sacre du printemps". Die Musik unter Peter Ruzicka wirkte im Konzertsaal wie eine riesige Strömung. Die dramatische und spannungsvolle Musik berührte das Herz des Publikums und erreichte den Höhepunkt des Abends. Das Publikum jubelte mit unaufhörlich großem Beifall, so dass der Dirigent immer wieder zurück auf die Bühne kommen musste, um sich zu bedanken.

10.12.2011
Yang Jianguo, Xinmin Daily (Shanghai)


 

Das MDR Sinfonieorchester Leipzig unter Peter Ruzicka mit der Uraufführung von ÜBER UNSTERN


"Malédiction" von Liszt kommt bedrohlich, ängstigend daher, düster ist der hier vertonte Zustand unentrinnbaren Unheils. Ein grandios abgestimmtes Zusammenspiel von Solist Martin Stadtfeld und dem Orchester, vermittelt von Dirigent Peter Ruzicka. Das Klavierwerk "Unstern! Sinistre, Disastro" dringt noch tiefer ein in das Schicksal als Heimsuchung, den Lauf einer Katastrophe, von der niemand weiß, wer sie lenkt. ÜBER UNSTERN als Antwort auf Liszt ist ein Auftragswerk des MDR an den Dirigenten Peter Ruzicka. Das Werk für Orchester beginnt mit Donnerklang, erstaunlich viel Schlagwerk ist auf der Bühne zu sehen. Ruzicka nimmt Liszts Motivik auf und baut auf ähnlich dramatische Effekte, die er mittels groß besetzten Orchesters erzeugt, wie auch die Fortsetzung der bedrohlichen Atmosphäre. Das ist handwerklich großartig gemacht und kurzweilig - der intendierte Bezug zu Liszt mit interessanten Mitteln erreicht. Besonders spannend: sphärische, zirpende, digital klingende Violinen, die an splitterndes Eis oder entfernte Schreie erinnern. Zweiter Teil des Konzerts sind sinfonische Fragmente aus Wagners "Tristan und Isolde". Die Musik Wagners, seinerzeit wagemutig mit der aufbrechenden Tonalität, ist emotional, dramatisch - so wird sie auch gespielt vom MDR-Sinfonieorchester, das mitreißt in diese Geschichte über die Auflehnung gegen das Unabänderliche, gegen das Schicksal.

Eva Finkenstein, Leipziger Volkszeitung, 7. November 2011


 

Peter Ruzicka leitete die Uraufführung seiner AULODIE beim SHMF


Seit Peter Ruzicka seine administrativen Ämter größtenteils abstreifte, nimmt seine Musik einen gelasseneren Ton an. Stockte ihm vormals der musikalische Atem, so gerät er nun unversehens in Fluss. Huldigte er ehedem einer zagen Fragment-Ästhetik, die sich bis in die Dreipünktchen-Titel etlicher Werke entkörperte, so müssen seine Tongestalten den Impuls zum Weitersprechen nun nicht erst empfangen. Er ist ihnen eingepflanzt. Statt zu zaudern und sich lyrisch zu vergittern, öffnet sich die Musik für Oboe und Kammerorchester - am Wochenende unter seiner Leitung in der Konzertscheune Salzau und im Rolf-Liebermann-Studio des NDR mit dem Solisten Albrecht Mayer und dem Schleswig-Holstein Festival Orchester uraufgeführt - gleich dem beredten Melos des Solobläsers. Später erst gerät sie ins Stocken, wenn dumpfe Trommelschläge mythisches Ungemach andeuten. AULODIE - der Titel des Konzerts, das im Auftrag des SHMF entstand - ist abgeleitet von dem schalmeiartigen Blasinstrument der alten Griechen. Zu Hochzeitsgesängen, Opferfeiern, Totenklagen, Waffentänzen und wilden Satyrspielen, aber auch zur Weinlese ertönte sein scharfer Klang, dem man sogar heilende Wirkung zusprach. Der Aulos-Gesang, wie man den Titel übersetzen könnte, öffnet also einen facettenreichen Anspielungsraum. Der Komponist misst ihn in sieben Klangszenen aus, in denen Schlagzeug, Klavier, Celesta und Harfe ein wohlgesetztes Wörtchen mitreden. Jeder Szene vorangestellt ist ein selbstähnliches Klang-Initial, das - einer jeweils anderen Erzählsituation und Gefühlssphäre ausgesetzt - unterschiedlichste musikalische Konsequenzen zeitigt. Die Szenerie wechselt von panischen und faunischen zu elegischen und bukolisch träumerischen Episoden. Für letztere vertauscht der Solist sein Hauptinstrument mit der Oboe d'amore. Einen besseren Taufpaten als den Solo-Oboisten der Berliner Philharmoniker hätte Ruzicka für sein anrührendes Tongedicht nicht finden können. Und eine hingebungsvollere Musikergilde als das jugendfrische Festivalorchester auch nicht. Es im Rahmenprogramm mit den "Metamorphosen" des altersresignierten Richard Strauss und - "griechisch schlank" - mit Beethovens Vierter zu erleben, deren Kontrastdramaturgie Ruzicka besonders liebt, war eitel Wonne. Der scheinbare Widerspruch zwischen seiner unspektakulären Dirigierweise und der unerhörten Ausdrucksintensität des Orchesters war das eigentliche Wunder des Abends.

Lutz Lesle, DIE WELT, 9. August 2011


Es wurde klar, was Straussens "Metamorphosen" an erster Programmstelle zu suchen hatte. Peter Ruzicka ließ ihm seine am Vorabend frisch uraufgeführte AULODIE für Oboe und Kammerorchester folgen und hatte für ihren Vortrag den philharmonischen Oboen-Großmeister Albrecht Mayer gewonnen. Einen besseren hätte er auch nicht wählen können, Mayer blies das gerade durch seine zeichnerische Klarheit höchst anspruchsvolle Werk mit wunderbarer Autorität und wurde umgehend dafür belohnt. Höhepunkt des Abends wurde Ruzickas neuestes, ganz in sich versunkenes Werk. Es gleicht in seinen sieben "Szenen" einer Kette zuhöchst sensibler Selbstbespiegelungen, die indessen alle formalen Reize des Musikmachens nutzen. Ruzicka ist immer verstandeshell und dezent gefühlvoll zugleich. Er kehrt sein Inneres nie unverrätselt nach Außen. Unterschlägt es aber auch keinen Takt lang. Er liefert in der AULODIE - was im Titel auf den Gesang mit einer Aulos-Begleitung im antiken Griechenland anspielt - einen Seelenbericht neuester Bau- und Lesart. Ein Meisterwerk.

Klaus Geitel, Berliner Morgenpost, 8. August 2011


 

Zur Uraufführung von MAHLER | BILD von Peter Ruzicka


Danach dann folgte die Befragung des Sinfonikers Mahler durch Peter Ruzicka. Er schrieb im Auftrag des Staatsorchesters MAHLER I BILD, ein Stück, das auf die Fragment gebliebene 10. Sinfonie Mahlers rekurriert. Wie diese Musik zurückhaltend zentrale kompositorische Elemente des Vorbilds umkreist, wie sie die Klangwelt Mahlers bisweilen nur noch geräuschhaft reflektiert, wie sie mit ungeheurer Energie in den grell gleißenden neuntönigen Kulminationsklang hinaus explodiert, um dann in konzentrierte Stille zurückzusinken, das zelebrierten Manfred Honeck und das Staatsorchester exzellent.

Annette Eckerle, Stuttgarter Zeitung, 11. Juli 2011


Peter Ruzickas Vision in seiner Auftragskomposition, heißt "Erinnerung". Die schmerzhafte Dissonanz jenes Neunton-Akkords, den Mahler dem Adagio-Satz seiner unvollendeten zehnten Sinfonie eingeschrieben hat, steht im Zeichen des spannenden 21-minütigen Ruzicka-Stücks, das mit der Auffächerung eines einzigen Tons in den ersten Geigen beginnt, die sich unendlich langsam im Orchester ausbreitet und in choralartige Bläsereinwürfe und Schlagzeugausbrüche steigert. Über Raumlautsprecher wird eine Art farbiges Rauschen eingespielt, das Ruzickas MAHLER I BILD einhüllt. Nach dem wiederholten Aufschrei des Neunton-Akkords wirkt der Ausklang mit einer unbegleiteten Bratschenkantilene wie ein Epitaph. Ruzicka, der sich in seinem Werk schon öfters mit Mahler beschäftigt hat, wirft hier einen "zweiten Blick" auf dessen Adagio, er orchestriert eine "kreisende Bewegung, Mahler gleichsam konzentrisch umschließend."

Dietholf Zerweck, Stuttgarter Echo, 13. Juli 2011


Fast tonlos beginnend und ebenso leise am Ende vergehend, scheinen subtil ausgehörte Klänge, dominierend die Bläser, sich Mahlers "Adagio" zu nähern, es sensibel zu überwölben. Eine Musik. wie ein ferner Gruß an einen Komponisten, dessen Werk unverändert in die Moderne bis heute weiterwirkt. Das Stuttgarter Orchester unter Manfred Honeck näherte sich Ruzickas MAHLER I BILD wie dem Adagio mit gebotener klanglicher Delikatesse und Empfindungskraft.

Gerhard Rohde, FAZ, 13. Juli 2011


 

Zur Uraufführung von Ruzickas Zyklus EINSCHREIBUNG


Manche Eindrücke gravieren sich in unser Gedächtnis ein wie klare, immer wieder abrufbare Schriftzeichen. Unlöschbar sind ihre Spuren in unser geistiges Tagebuch eingeschrieben und treten mit unseren eigenen Erfahrungen in einen regen Austausch. Wohl hatte der Komponist Peter Ruzicka dieses Bild vor Augen, als er Mitte letzten Jahres im Auftrag des NDR seine sechs an Gustav Mahler angelehnten Orchesterstücke in Angriff nahm und sie schlicht EINSCHREIBUNG betitelte. Nun brachte das NDR Sinfonieorchester unter Leitung von Christoph Eschenbach in Ruzickas Beisein diesen faszinierenden Zyklus in der Hamburger Laeiszhalle zur Uraufführung. Eng sei seine Werkfolge mit der "Erfahrung Mahlerscher Musik" verbunden, erklärt der Komponist. In Form von "momentweisen Näherungen" strahlten diese impulshaft in die Klangrede seiner Stücke ein. Die Zymbeln zu Beginn des ersten Stücks von EINSCHREIBUNG streuten ein gleißendes Licht aus, das unmittelbar von der Pauke und brummelnden Bässen durchsetzt wurde. Ruhige Klangflächen wurden von Orchesterausbrüchen attackiert, und die Bedrohung des scheinbar Idyllischen war wie auch bei Mahler stets gefährdet. Nach stürmischen Flötenwirbeln im zweiten Stück verselbstständigte sich ein Marschrhythmus, den auch Mahler in unterschiedlichsten Färbungen immer wieder herangezogen hatte, zu einer aggressiven Steigerung in der kleinen Trommel. Besonders apart klang das Rauschen im vierten Stück mittels einer Bürste, die ein Schlagzeuger auf dem Fellbezug seiner Trommel bewegte. Gut erkennbar waren die bruchstückhaften Anleihen aus den großen Symphonien Mahlers, die Ruzicka wie Andeutungen zitierte, oder die Anklänge an Mahlers typische Gestik oder das Fernorchester, das der Zeitgenosse mit seiner eigenen, aus vielfach gebrochenen und verfremdeten Klangflächen zusammengesetzter Sprache verband. Eine umjubelte Uraufführung.

DIE WELT, Helmut Peters, 12. Februar 2011



Golgatha - ins Hier und Heute geholt Philharmonie glänzt mit Peter-Ruzicka-Werk


Reutlingen. Golgatha ist hier und heute: Das siebte Sinfoniekonzert der Philharmoniker bescherte die Begegnung mit dem Komponisten und Dirigenten Peter Ruzicka - ein denkwürdiger Montagabend.


Nach den Komponisten-Dirigenten Krzysztof Penderecki und Manfred Trojahn in den vergangenen Jahren gelang den Philharmonikern mit der Verpflichtung des Komponisten-Dirigenten Peter Ruzicka ein weiterer Coup. Der 1948 geborene Düsseldorfer zählt zu den großen, feinsinnigen, außergewöhnlich vielseitigen Künstlerpersönlichkeiten unserer Zeit (wir berichteten) und hatte nun nach Reutlingen ein 1990 entstandenes Orchesterstück aus eigener Feder mitgebracht: Eine für sein Schaffen sehr charakteristische Reflexion über die Musik der Vergangenheit - einen zwölfstimmigen Bläsersatz aus der Oratorienfassung von Joseph Haydns monumentaler Karfreitagsmusik "Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz".

Dieser setzt dort, bei Haydn, nach den Worten "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" ein - Musik, die Ruzicka in Bann gezogen hatte: "Grabesmusik, wie sie eher Schubert oder Mahler zugeschrieben werden könnte." Und so heben Ruzickas "Metamorphosen über ein Klangfeld von Haydn für großes Orchester" mit einem wie aus dem Nichts kommenden, gewaltig leisen, auratischen Clusterklang an, in fahler Färbung, stehend, suchend, fragend. In diesen Zustand erstarrter Zeit fallen drei Ferntrompeten ein - Schreckens- und Fanfarenstöße in krausem Schmettern, die schockhaft ratlos machen; später, fetzenhaft, wie aus ferner Zeit, legen sich zarte Akkorde Haydns über die Clusterklänge Wendungen, Brechungen.

Wem die Musik Haydns vertraut war oder wem aus der zurückliegenden Karwoche, da die "Sieben letzten Worte Jesu am Kreuz" in der Marienkirche in der intimen Streichquartett-Fassung zur Aufführung gekommen waren, noch in den Ohren klang, dem konnte Ruzickas Musik - obgleich sie nur eine einzige Facette der Haydn-Partitur beleuchtete - wie eine Hörbarmachung der gesamten Schreckensszenerie von Golgatha erscheinen: Eine Golgatha-Szene, flüsternd und leise, dramatisch und eruptiv, klagend und anklagend, mit einem gleichsam einkomponierten Hörer, einem verlassenen Zuschauer, einer Maria oder eines Johannes, seines Schreckens und seiner Furcht, seiner, bei Ruzicka, nur geringen Hoffnung.

Die Philharmoniker bemächtigten sich dieser fragilen Musik bewundernswert konzentriert und präzise. Luzide gelang es, die vielschichtigen statischen Klangflächen aufzufächern und in zitternder Schwebe zu halten. Akzentgeschärft, aber gerade darin auch wieder sehr subtil, glückten die Schnitte, Einschnitte und Risse, mit fast apokalyptischer Verve die Ausbrüche und Krisen. Besonders im Leisen blieb das Disparate dieser zerklüfteten Partitur stets präsent und transparent, entbehrte der Orchesterklang Geschmeidigkeit, Glanz und Glätte - und es schien bewusst gewollt. So festigte sich der Gesamteindruck einer gefährdeten, im Innersten bedrohten Musik, eines Selbstgesprächs, zu dessen Wesen der Zweifel gehört.

Ob es von dieser packenden Karfreitagsmusik, mit der Ruzicka Golgatha ins Hier und Heute holte, eine geheime Linie gab zum Schlussstück des Abends? Ruzicka hatte einige der orchestralen Vor- und Zwischenspiele aus Wagners "Parsifal" zusammengestellt und zu einem rein instrumentalen Drama geschickt fusioniert. Dabei ragte der "Karfreitagszauber" heraus, jene suggestive Szenerie des dritten Akts, die am höchsten Schmerzenstag das zauberhafte Walten der Natur zeigt. Lyrisch und hellhörig, mit fantasievollem klangdramaturgischen Gespür und besonderer Sorgfalt für die umschatteten, zarten Übergänge glückte den Philharmonikern dieses Bild einer magisch leuchtenden Welt, eines symphonischen Mysteriums - innig und verinnerlicht, dem fehlenden Bühnenkontext gänzlich enthoben.

Überhaupt war verblüffend, wie leicht und scheinbar selbstverständlich die Philharmoniker und Peter Ruzicka zu einer Atmosphäre entspannten, empathischen, wunderbar inspirierten Musizierens gefunden hatten - nicht zuletzt beim Herzstück des Abends, Haydns "Sinfonia concertante". Ruzicka dirigierte diese anspruchsvolle, selten gehörte Musik animiert, bestimmt und mit der ihm eigenen Eleganz und Lauterkeit. Und die vier Solisten aus den Reihen des Orchesters - Fabian Wettstein (Geige), Friedemann Dähn (Cello), Dennis Jäckel (Fagott) und Michael Laucke (Fagott) - brillierten, wie es sich für Haydn gehört, mit Geschmack und Können: Zum Vergnügen und zur Freude des Publikums.

Rafael Rennicke, Südwest-Presse, 4. Mai 2011


 

Der Panther von Jerusalem


Peter Ruzickas schroffes Memento "Recherche (- im Innersten)", 1998 entstanden und zum Millennium vom NDR Sinfonieorchester unter Christoph Eschenbach uraufgeführt, beschwört das Wort Jerusalem - Fluchtpunkt jüdischer Identität, Symbol mystischer Vereinigung im Augenblick des Todes - elf mal in wachsender Dringlichkeit. Die zwölfte Anrufung bleibt aus. Unvermittelt, ohne Erlösungsvision, bricht das Stück ab, das sich als Szene in seiner "Celan"-Oper wiederfindet. Der Freitod des Dichters, dem sich Ruzicka nahe fühlt, das Grauen des Holocaust, die Leidensgeschichte Israels in Geschichte und Gegenwart tilgen das Prinzip Hoffnung. Der Vorschein einer human-vollkommenen Welt, den Ernst Bloch utopisch glimmen sah - mit gnadenlosen Hammerschlägen, im manischen Auf und Ab von gewaltverzerrtem Fortissimo und verzagtem Pianissimo trägt ihn Ruzicka zu Grabe. Eine gewaltige Herausforderung für den Opernchor des Theaters Bremen, die Hamburger Symphoniker und das Energiebündel Yoel Gamzou am Dirigierpult. Ruzickas knifflige Partitur buchstabierte er nicht nur akribisch nach, er rang auch um ihren Geist.

DIE WELT, Lutz Lesle, 21. April 2011


 

RUZICKA LEITET DIE MÜNCHENER BIENNALE 2014


Der Stadtrat der Landeshauptstadt München hat in seiner Vollversammlung die Fortsetzung des Internationalen Festivals für neues Musiktheater, Münchener Biennale für das Jahr 2014 beschlossen.

Das Erfolgsmodell für neues Musiktheater, die Münchener Biennale – Internationales Festival für neues Musiktheater, ist weltweit einzigartig und gilt als eine der renommiertesten Veranstaltungen im Bereich der zeitgenössischen Musik. Die Bedeutung dieser Veranstaltung lässt sich am besten daran ablesen, dass in den Jahren 1988 bis 2010 bislang mehr als 80 Musiktheaterwerke in Auftrag gegeben und uraufgeführt wurden, von denen viele anschließend ihren Weg in das Repertoire der internationalen Opernhäuser gefunden haben.

Als künstlerischer Leiter des Festivals beauftragt Peter Ruzicka seit vielen Jahren zahlreiche Komponisten und Komponistinnen und kongenial entsprechend Regisseurinnen und Regisseure, die anschließend international Karriere machen. Der Oscar-Preisträger Tan Dun, Chaya Czernowin, deren Biennale-Produktion mit dem Bayerischen Theaterpreis ausgezeichnet wurde, Toshio Hosokawa, José-Maria Sanchez-Verdu oder Enno Poppe sind nur fünf Beispiele von vielen, die nach ihrem Wirken auf der Biennale von weiteren internationalen Festivals und Orchestern Kompositionsaufträge erhalten haben und deren Musiktheaterwerke an den unterschiedlichsten Orten zu hören sind. Die Regisseure Claus Guth und Stefan Herheim haben von München aus ihren Weg nach Bayreuth, Salzburg und an viele international bedeutende Opernhäuser gemacht. Aufgrund dieser Erfolgsgeschichte und angesichts des mehrjährigen Produktionsvorlaufes hat der Kulturausschuss heute eine Absichtserklärung zur Fortführung des Festivals ausgesprochen.

Prof. Dr. Peter Ruzicka, der seit 1996 als künstlerischer Leiter der Münchener Biennale tätig ist, wird 2014 letztmalig das Programm verantworten. Bereits ab 2012 wird die Biennale sich neuen Vermittlungsformen und Diskursen öffnen. Das geplante erweiterte Rahmenprogramm, wird im November 2011 auf der Pressekonferenz für das kommende Festival vorgestellt werden.

Kulturreferat der Landeshauptstadt München, 16. März 2011


 

Peter Ruzicka beim musikkollegium winterthur


Peter Ruzicka ist als Komponist und Dirigent gleichermaßen erfolgreich. Für seine Kompositionen, die weltweit von renommierten Ensembles und Künstlern aufgeführt werden, erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Regelmäßig gastiert er zudem als Dirigent bei den bedeutenden Sinfonieorchestern der Alten und Neuen Welt sowie in China und Japan. Darüber hinaus amtierte er wiederholt als Intendant, u.a. beim Radio-Symphonie-Orchester Berlin, bei der Hamburger Staatsoper sowie bei den Salzburger Festspielen. Ein Multitalent der Sonderklasse, eine der bedeutendsten Musikerpersönlichkeiten der Gegenwart. "In allen seinen bisher eingenommenen Positionen hat er Außerordentliches geleistet und ermöglicht", sagte sein Komponistenkollege Wolfgang Rihm: "Ruzicka hat den geistigen Horizont des Musiklebens durch sein untrügliches Gespür für künstlerische Qualität, seine Urteilssicherheit und ästhetisch-theoretische Kompetenz nachhaltig erweitert. Sein Wirken als Künstler und Intendant setzt die notwendigen Zeichen gegen die bedrohlich anwachsende öffentliche 'Event-Mentalität'. Die geistige Welt ist ihm zu großem Dank verpflichtet."

Werner Pfister, Auftakt musikkollegium winterthur, Dezember 2010


 

Peter Ruzicka führt die Hamburger Philharmoniker als dirigierender Komponist zu einem glanzvollen Höhepunkt im Mahler-Jahr


Wer hätte die aktuellen Programmlinien der Hamburger Philharmoniker schlüssiger zusammenführen können als der ehemalige Intendant der Hamburgischen Staatsoper, Peter Ruzicka? Eine Musik, die den Zweifel an sich selbst birgt, schwer zu einem endgültigen Befund kommt, sehr viel über sich nachdenkt" - mit dieser Selbstdiagnose gibt Ruzicka einen Wink zum Verständnis auch seiner Musik für Violine, Kammerchor und Orchester von 1994/95, die ins Zentrum des von ihm geleiteten 3. Philharmonischen Konzerts in der Laeiszhalle stand, "...Inseln, randlos..." . Mit den Inseln, sind Klangfelder oder Klangreliefs gemeint, die einander überlagern. Ihre Konturen verfließen ins Vage wie die Farbflächen des amerikanischen Bildkünstlers Mark Rothko. Vieldeutig sind auch die sechs Zeilen des Gedichts "Nach dem Lichtverzicht" von Paul Celan, die Ruzicka seinen randlosen Inseln implantierte - für einen flüchtigen Augenblick nur, während die übers Orchester verstreuten Chorstimmen den Instrumentalfarben sonst sanfte Vokalisen beimengen. Ätherisch schwebt die Solovioline über dem changierenden Klanggeschehen, das gelegentlich hektische Einbrüche und polternde Ausbrüche erfährt - Schattenwürfe der alptraumhaften Verse Celans "Die blühselige Botschaft / schriller und schriller / findet zum blutenden Ohr". Aus der Stille kommend und endlich wieder ins Unhörbare entschwebend, bewegte sich Carolin Widmann, Kammermusikerin von Gnaden, vornehmlich in Flageolett-Höhen. Um der Werkidee einer "nachlauschenden Klangrede" nehzukommen, gab sie ebenso ihr Bestes wie das Vocalconsort Berlin und die Philharmoniker. Seine ästhetische Nähe zu Mahler bekräftigte Ruzicka jetzt, indem er seinem Stück eine Rarität folgen ließ: die Urfassung des Kopfsatzes von Mahlers Zweiter, der in Hamburg vollendeten "Auferstehungssymphonie". An der Wiederentdeckung der "Todtenfeier" (1888) - eine Anspielung auf das gleichnamige Epos des polnischen Poeten Adam Mickiewicz - hatte Ruzicka 1983 als Intendant des damaligen Radio-Symphonie-Orchesters Berlin maßgeblichen Anteil. Gegenüber dem bekannten Symphoniesatz wirkt dieser erste Wurf ungezähmter, ursprünglicher. Die neuerliche Aufführung, die Ruzicka hörbar am Herzen lag, gab ihm recht: Das trauermarsch- und requisitenartige Klangepos besitzt genügend Lebenskraft, um als eigenständige Tondichtung zu bestehen. Zudem verschafft sie uns die seltene Gelegenheit, Mahler am Komponiertisch über die Schulter zu blicken und der Entstehung eines "work in progress" beizuwohnen. Das "Dur-Moll-Siegel" am Ende der "Todtenfeier" schreibt die harmonische Entgrenzung fort, die Beethoven in der Einleitung seiner Vierten wagt - für Schumann die "romantischste" aller Beethoven-Sinfonien. Indem ihr eingangs huldigte, bekannte er sich zu seinen Geistesvätern. Mit Bedacht leitete der Gastdirigent der Philharmoniker die tonale Unbestimmtheit, die befremdlichen harmonischen Rückungen, die melodische Verhaltenheit und den eingedunkelten Grundton der Introduktion hervor, um den Lichtwechsel zum Allegro vivace umso krasser hervortreten zu lassen. Auch die Dialektik zwischen dem punktierten Paukenmotiv und der Gesangsmelodie im Adagio nahm der dirigierende Komponist in besondere Obhut.

Lutz Lesle, DIE WELT, 24. November 2010


 

ECHO Klassik Preis 2010 an Peter Ruzicka


Die ECHO Klassik-Jury hat der Neueinspielung der Streichquartette 1-6 von Peter Ruzicka durch das Minguet Quartett den ECHO Klassik Preis 2010 in der Kategorie Kammermusikeinspielung des Jahres zuerkannt.
Der Preis wurde am 17. Oktober 2010 in der Philharmonie Essen verliehen und vom ZDF ausgestrahlt.

neos 10822 ruzickaNEOS 10822/23 (2 CD Box) Koproduktion mit Deutschlandfunk
Minguet Quartett
Mojca Erdmann, Sopran Christoph Bantzer, Sprecher






SACD 1
01 INTROSPEZIONE • 1. Streichquartett
Dokumentation für Streichquartett (1969/1970)
02-06 ... FRAGMENT... • 2. Steichquartett
Fünf Epigramme für Streichquartett (1970)
07 Paul Celan: 12 Gedichte aus "Zeitgehöft"
08 KLANGSCHATTEN
for string quartet (1991)
09 ...... ÜBER EIN VERSCHWINDEN • 3. Steichquartett (1992)

SACD 2
01 "... SICH VERLIEREND" • 4. Streichquartett
für Streichquartett und Sprecher (1996)
02 STURZ • 5. Streichquartett (2004)
03-09 ERINNERUNG UND VERGESSEN • 6. Streichquartett
für Streichquartett und Sopran (2008)


Sprachschatten, Klangschatten...

Im Werkkatalog Peter Ruzickas bildet sich eine innere Landschaft ab, deren Konturen in den ersten drei Jahrzehnten seines Schaffens wesentlich von der sanften Schubkraft Celanscher Lyrik bestimmt waren, seit 2002 dann insbesondere von der Sogwirkung Hölderlinschen Dichtens und Denkens. Zwei Dichter - zwei Brennpunkte einer Ellipse, auf der neben den beiden Musiktheaterwerken Celan (2001) und Hölderlin (2008), etwa vierzig großformatigen Partituren für Orchester, einer Vielzahl von Werken für Kammerensemble und Titeln mit vokalen Anteilen auch die sieben hier dokumentierten Kompositionen für Streichquartett auszumachen sind.
Mit ihren Entstehungsdaten (1970 bis 2008) umspannen und strukturieren sie zugleich das Schaffen von nahezu vier Dezennien. Als jeweilige »Reflexionen eines bestimmten Zustandes, eines bestimmten Ereignisses« (Peter Ruzicka) kann man sie wie Auszüge aus einem Tagebuch hören, die - bei allem »Wechsel der Töne« (Hölderlin) - durch die Einheit des einen Tons miteinander kommunizieren. Dieser Ton verdankt sich vor allem den Referenzen Mahler, Webern und Celan, deren Nachhall in Ruzickas Werken den ästhetischen Kurs von Anbeginn markiert. Als trigonometrische Punkte seines Schaffens vermögen sie Werke ganz unterschiedlicher Intention zu einem Œuvre zusammenzubinden, von dem man sagen darf, dass es sich bis in die jüngsten Opera hinein treu geblieben ist. Daneben sind es vor allem die Parameter Erinnerung, Zeit und Stille, die, auf immer neue Weise ins Werk gesetzt, zu den Wasserzeichen von Ruzickas Partituren gehören. In ihnen vor allem gewinnt ein Gedanke Gestalt, den Celans Lyrik immer wieder hervorzweifelt, der Hölderlins poetisches Denken grundiert und den man als die imaginäre Mitte von Ruzickas musikalischer Poetik bezeichnen darf: Es ist das Bild vom Werden im Vergehen, das sich - nie triumphierend, vielmehr zaghaft und oft von Zweifeln begleitet - in seinen Partituren Gehör verschafft.

Peter Becker


 

Irdische Transzendenz


Gerade war in der Akademie der Schönen Künste mit allen sechs Streichquartetten Peter Ruzickas zu erleben, was für ein exzellenter, emphatischer, emotionsgeladener Komponist der so beherrscht und allseits korrekt wirkende Hanseat ist. Die Spanne vom ersten Quartett aus dem Jahre 1969 bis zum bislang letzten, mit einer halben Stunde Spieldauer längsten aus dem Jahr 2008, ist groß. Hier ist der Niederschlag eines unter ärutlicher Aufsicht durchgeführten Experiments der Wahrnehmungserweiterung, dort die Fortspinnung von Ruzickas Hölderlin-Oper in der "Vertonung" eines Gedichts, das in der Oper keinen Platz fand. Dazwischen reflektiert das zweite Quartett den Suizid Celans, das dritte (...ÜBER EIN VERSCHWINDEN) den Tod der Mutter - beide in wunderbare Mahler-Allusionen mündend. Das vierte Quartett bricht mehrfach in die Rezitation philosophischer oder poetischer Sentenzen zum Schweigenmüssen aus (gesprochen von Klaus Schultz, der auch das Gespräch mit dem Komponisten moderierte) und ist wohl das problematischste Stück des Quartett-Oeuvres, das fünfte (STURZ) besteht aus einem einzigen wilden, kaum gezügelten Ausbruch, während das letzte (ERINNERUNG UND VERGESSEN) die Summe alles Vorausgegangenen zieht. Ein eminent hoch geführter Spran (bestechend präzise und intensiv von Sarah Maria Sun gesingen) verschmilzt Verse aus Hölderlins "Mnemosyne" mit den vier Instrumentalstimmen. Im dritten Satz verarbeitet Ruzicka Melodien eines Quartetts, die er als 15-jähriger komponierte. Dass dazu zartes Kirchengeläut aus der Stadt durch die geschlossenen Fenster herüberweht, ist genauso sinnfällig wie die Tatsache, dass vor fünf Jahren am selben Ort die Glocken zur Wahl des Papstes Ruzicka drittes Quartett begleiteten. Die Transzendenz seiner Musik und ihr irdischer Beziehungsreichtum spiegeln sich darin mit feiner Ironie. Wie schön wäre es, wenn neben den Aufführungen von Kammermusik und Orchesterwerken Ruzickas in München auch einmal eine seiner beiden Opern CELAN oder HÖLDERLIN zu erleben wäre.

Süddeutsche Zeitung, 1.10.2010 - Klaus Kalchschmid


 

Spannender Abschied mit Schumann


Damit wurde es noch einmal spannend. Wie nähert sich ein mit allen Möglichkeiten zeitgenössischer Techniken arbeitender und interdisziplinäre Philosophie, Literatur und die europäische Musiktradition einbeziehender Komponist dem Romantiker Schumann? Als Dirigent tat Ruzicka das unbefangen und Schumann huldigend, ohne romantische Verklärung oder Verklärtheit. Sein Schumann hatte in der "Manfred"-Ouvertüre Biss, war voller Leidenschaft und lebte vom dynamisch beweglichen Impetus des Dramatischen. In der 4. Sinfonie erweiterte sich dieses Bild: eine kraftvolle, von fast Beethovenscher Vitalität und großer Breite musikalischen Ausdrucks bestimmte Aufführung mit der Philharmonie der Nationen. Im Cellokonzert war Zurückhaltuing spürbar, der Ton weicher. Geschuldet war dies einem Solisten Li-Wei Qin, der sich mit schönstem Celloton als "erzählerisch" feinste Nuancen aufspürender Poet erwies und die Herrlichkeit Schumannschen Könnens konzentriert in zwingende Tonintensität investierte. Ganz anders Ruzickas kompositorischer Beitrag ANNÄHERUNG UND STILLE, Vier Fragmente über Schumann für Klavier (Sophie-Mayuko Vetter) und 42 Streicher. Eine Musik, die Originales von Schumann nutzt und es subjektiv in zeitgenössisch klingende Neziehung setzt. Eine Musik der Stille, des Verklingend, Verstummens, Sich-Verweigerns. Klänge von irisierender Farbigkeit und fragiler Zartheit; Schumann in eigenwilliger Deutung - damit sehr am Platze.

Ostsee-Zeitung, 13.09.2010 - E. Ochs


 

Humanitätsversprechen, mehrfach gebrochen

Philharmoniker und Thielemann mit Beethovens Neunter und einer Ruzicka-Neuheit


Wien - "Zurücknehmen" wolle er das "Gute und Edle, das nicht sein soll", sagt der Komponist Adrian Leverkühn in Thomas Manns. Was er damit meint, erfährt der Leser erst auf Nachfrage des fiktiven Gesprächspartners: Es ist Beethovens 9. Symphonie, deren Humanitätsgedanken rund um die Entstehungszeit des Romans in den 1940er-Jahren von zwei totalitären Regimes für ihre Zwecke verbogen wurden. Um solchen Missbrauch zu verhindern, hilft für Leverkühn nur: "zurücknehmen". In seinem gleichnamigen Auftragswerk für die Wiener Philharmoniker mit dem Untertitel "Erinnerung für großes Orchester" bezieht sich Peter Ruzicka auf diesen paradoxen Gedankengang.

Das Stück arbeitet sich an Beethoven-Fragmenten ebenso ab wie an immer wieder neu formulierten pathetischen Gesten, die aufgeraut werden, um dann wieder hochexpressiv zu glühen. Naturgemäß liegt den Philharmonikern Letzteres am besten. Währenddessen zeigte der Dirigent am Ende des bald auf DVD (Unitel/ORF) erscheinenden Beethoven-Zyklus, dass er auch zeitgenössische Musik genießerisch und breit anlegt.

So kamen am Donnerstag im Konzerthaus elegische Melodien besser zum Tragen als das Zerfetzte, Gebrochene der Partitur: Erst durch das irisierende Streicherflirren und andere geräuschhafte Klänge, die zu wenig widerborstig wirkten, könnte die Thematik der Komposition ganz deutlich werden. Pikant allerdings, diese gedankenschwere, beziehungsreiche Musik ausgerechnet mit einer Interpretation der Neunten von Thielemann zu koppeln, verkörpert er doch einen Zugang zu diesem Werk, der dessen Wirkungsgeschichte ausblendet.

DER STANDARD, Daniel Ender, 23. April 2010


 

Peter Ruzicka in der Berliner Philharmonie


Ein Orchester unter Hochdruck Ein musikalischer Aufgalopp, wie man ihn sich gar nicht pfeffiger vorstellen konnte. Und das ausgerechnet aus Beethovens Feder. Seine Ouvertüre zu Kotzebues Festspiel „König Stephan" eröffnete das Konzert des Deutschen Symphonie Orchesters unter Peter Ruzickas imponierender Leitung in der Philharmonie und verbreitete von vornherein fröhliche Stimmung. Die hielt auch noch an, als Elena Bashkirova fingerfertig, temperamentvoll und leidenschaftlich Beethovens 1. Klavierkonzert vortrug. Eine Verstörung, kompositorisch kunstvoll visiert, wuchs sich nach der Pause geradezu aus zum alles verschlingenden „Maelstrom", wie Ruzicka seine zwanzigminütige Klangvision genannt hat. Basstuben und schweres Blech reißen auf Anhieb den quirlenden Abgrund auf, in den sich die Musik Hals über Kopf hinabstürzt, Alsbald paukt der Sturmwind der Inspiration den musikalischen Fluss hoch und suggeriert die Gefahr, die von den unwiderstehlich gnadenlosen Verlockungen der Tiefe ausgeht. Eine sinfonische Dichtung der wahrhaft knochenbrecherischen Art!

Berliner Morgenpost, 20. Januar 2010


Das DSO Berlin unter Peter Ruzicka Als Intendant des Deutschen Radio-Symphonie-Orchesters in Berlin hatte Peter Ruzicka von 1979 bis 1987 mit inhaltlichen Schwerpunktprojekten – unter anderem auch für damals aufführungspraktisch unterbelichtete Komponisten wie Siegfried Wagner und Hans Pfitzner – neue Impulse geschaffen. Sein Vorgehen hatte sich als orchesterdramaturgisch richtungweisend erwiesen, und seine Praxis war rasch von anderen Klangkörpern übernommen worden. Der nachmalige Intendant der Hamburger Staatsoper, der Münchner Biennale für neues Musiktheater und der Salzburger Festspiele, war dann wiederholt als Dirigent zu jenem Orchester zurückgekehrt, das schon im Mai 1971, drei Jahre vor Amtsbeginn des Intendanten, erstmals eine Komposition von ihm zur Uraufführung gebracht hatte. Unter Ruzickas Stabführung sollte daher programmatisch und inhaltlich den Bogen schlagen zwischen Weltbühne, Bühne und Konzertsaal. Dafür kombinierte Ruzicka zwei Werke von Beethoven mit zwei eigenen und wählte den im selben Jahre wie Beethoven geborenen Friedrich Hölderlin, auch Thema von Ruzickas zweitem Bühnenwerk, als gemeinsamen Nenner.
In der kurzen Ouvertüre zu Kotzebues „König Stephan" aus dem Jahre 1812, sucht der Dirigent bei allem Wohlklang die den französischen Freiheitsidealen verpflichtete Reibung von höfischer und populärer Musik in Beethovens zunächst tonal unbestimmtem Rahmen. Noch deutlicher manifestiert sich diese Lesart in Ruzickas Interpretation von Beethovens erstem Klavierkonzert: revolutionäre Direktheit im Spiegel klassischen Formenbewusstseins, gipfelnd im skurrilen Finalsatz, einem multiplen Tanz als Befreiung. Ruzickas eher ruhige Stabführung evoziert szenische Kraft; beim geradezu dialektischen Aufgreifen der Themen zwischen dem Orchester und der adäquaten Tastenvirtuosin Elena Bashkirova erweist er sich als Klang-Spielführer.

Maelstrom, den Namen eines Strudels, der durch gegenläufige Strömungen entsteht, hat Ruzicka für die symphonische Paraphrase auf seine Oper „Hölderlin. Eine Exposition" gewählt. Doch anders als in der Oper, entwickelt sich der beständige Wechsel musikalischer Klangströme hier in einer eigenen „Dramaturgie nicht-linearen musikalischen Fortschreitens" (Ruzicka). Das dreifache Holz und Blech, mit vier Hörnern und vier Tuben, ist erweitert um Pauken und ein umfangreiches Schlagwerk für vier Spieler. Auch Harfe, Klavier und Celesta bilden im Wirbel von Streichern und Bläsern schillernde, irisierende Lichtpunkte. So wird das Bild des rasenden Wirbels zu einer Sicht des inneren Stillstands, in dem einzelne Klangreize – etwa die sanft berührten Styroporblöcke – nachhaltige Eindrücke schaffen.

Jene „Ereigniszustände" des „Maelstrom", wie auch das vom Dirigenten herausgearbeitete tänzerische Aufbegehren bei Beethoven, finden ihre Überhöhung in der nachfolgenden Uraufführung: „Symphonische Fantasie aus der Oper ‚Die Frau ohne Schatten', nach der Originalbesetzung der Oper adaptiert von Peter Ruzicka", – ein Titel, so lang, wie ihn sonst nur Henze pflegt. Strauss' Sinfonische Phantasie aus dem Jahre 1946 gibt Hofmannsthals Handlung linear wieder, wobei die Gefühlswelt des Färberpaares über die von Kaiserin und Kaiser dominiert. Die musikalische Erzählung beginnt mit dem auch die Oper eröffnenden Thema „Keikobad", springt dann rasch, Meerberge hinan, zum Schlussakt und gipfelt in der Apotheose der wiedergefundenen Paare und ihrer Ungeborenen. Der Hörer kannte das Werk bislang nur in Strauss' eigener, die Klangpracht der Oper reduzierender Orchestrierung.

Außer einigen satztechnischen Veränderungen bei Szenenübergängen, hat Ruzicka nunmehr die Opulenz des Orchesterklangs, analog der Opernpartitur, mit vierfachem Holz, acht Hörnern und sechs Trompeten, zwei Celestas, zwei Harfen, Orgel, Glasharmonika und groß besetzten Streichern, retouchiert. Diese um zahlreiche Reizwirkungen von Ruzickas Wirbelklängen angereicherte Welt des Strauss'schen Schönklangs versöhnt das Publikum mit der Moderne: Provozierte die Erstaufführung des „Maelstrom" auch einen heftigen Buhruf, so zollte das Publikum am Ende des Konzerts in der nahezu ausverkauften Philharmonie dem bestens disponierten DSO und seinem Komponist-Dirigenten einhelligen Zuspruch.

Neue Musikzeitung (nmz) - Peter P. Pachl, 27. Januar 2010


 

Mitreißender Notenstrudel entschlüsselt

Das Bundesjugendorchester unter Peter Ruzicka und der Solo-Pianist Fazil Say mit beeindruckendem Konzert in der Laeiszhalle


Ein Strudel in fließendem Gewässer oder in einer Untiefe an steil abfallenden Stränden ist eine tödliche Gefahr. Seine Kräfte sind unermesslich, und selbst beste Schwimmer sind ihnen zumeist nicht gewachsen. Für die jungen, zwischen 14 und 19 Jahre alten Musikerinnen und Musiker des Bundesjugendorchesters, das am Freitag in der Musikhalle unter Leitung des Komponisten und ehemaligen Intendanten der Hamburgischen Staatsoper Peter Ruzicka spielte, war die Vorstellung eines solchen Strudels, seiner Sogkraft und Druckentfaltung unter Wasser ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis eines Stückes Neuer Musik.

"Maelstrom" hatte Ruzicka sein eigenes, riesig besetztes Orchesterwerk aus dem Jahr 2007 betitelt und assoziierte damit nicht nur die so bezeichneten Wasserstrudel der Lofoten an der Nordküste Norwegens, sondern auch das geistige Kreisen um zentrale Gedanken seiner damals gerade vollendeten Oper "Hölderlin". "Bei der ersten Begegnung mit dieser Musik hatten wir diese Hintergründe noch nicht ganz begriffen", berichtet die Geigerin Nina Meinhof, "aber mit jeder Erklärung von Ruzicka in den ersten Proben Ende Dezember wurde uns der Sinn immer klarer."

Nach einem unerwarteten Ausbruch zu Beginn suggerieren liegende Klänge eine trügerische Sicherheit. Bewundernswert hielten die jungen Musiker die Spannung, während die Sogwirkung dieser Musik immer stärker wurde, als steuere man schwimmend und um Luft ringend auf einen riesigen Wasserfall zu. Jede spieltechnische Herausforderung bis hin zu den in sich kreisenden Streicher-Glissandi am Ende meisterte das Bundesjugendorchester bravourös.

Dass Ruzicka "eher der Kopfmensch" und der Solo-Pianist des Abends Fazil Say "eher ein Herzmensch" sei, wie Nina Meinhof die beiden pragmatisch charakterisierte, sollte dem Dritten Klavierkonzert op. 37 von Beethoven einen ganz besonderen Reiz verleihen. Die Frische und Musizierfreude des Orchesters, das schon in der Einleitung jede Phrase veredelte, kontrastierte herrlich mit der unkonventionellen Beethoven-Lesart des türkischen Pianisten.
Say schwankte zwischen Trotz und Zerbrechlichkeit und setzte eine verspielte, fast spieluhrenartige Solokadenz an den Schluss, die schließlich um den gebrochenen Moll-Dreiklang des Hauptthemas kreiste und sich stockend verlor, bevor das Orchester erneut einsetzte. Ohne den langsamen Satz verklingen zu lassen, schockierte Say mit einem Attacca-Beginn des Finales. Das Bundesjugendorchester geriet darüber aber nicht ins Stolpern.

Alle Orchestermitglieder, von denen - wie Meinhof berichtet - nur circa 80 Prozent wirklich Musik studieren wollen, könnten ein Probespiel bei einem Profiorchester auf Anhieb wagen. Das zeigten und bewiesen die jungen Leute zum guten Schluss noch einmal mit Strawinskys rhythmisch vertracktem Orchester-Puzzle "Le Sacre du Printemps".

DIE WELT - Helmut Peters, 11. Januar 2010


 

Erregende Moderne

Kurz und schmerzlos wird bei den Meisterkonzerten in der Regel moderne und zeitgenössische Musik abgehandelt. Der „programmatischen Pflicht" unterzog man sich diesmal auf höchst erfreuliche Weise. Nicht nur, weil es ehrenwert erscheint, den renommierten Komponisten und Intendanten Peter Ruzicka mit einem eigenen Werk vorzustellen. Vielleicht gilt es auch Wünsche jener Abonnenten erfüllen, die gerne mal etwas abseits der viel begangenen Wege des klassisch-romantischen Repertoires ihre Fühler ausstrecken wollen. Also spielte das gerne gesehene, technisch staunenswert gut disponierte Bundesjugendorchester mit Peter Ruzicka am Pult als Tournee-Hit nach der Pause Igor Strawinskys einstigen Bürgerschreck 'Sacre du printemps'.

Runde vierundunddreißig Minuten veränderten im Uraufführungsjahr die musikalische Welt – und die Musik schockt noch immer. Ruzicka entlockte schlagtechnisch versiert der Musik ihre fulminanten Sprengkräfte, und die jungen Musiker überwanden mutig die vertrackten Barrieren. Ruzickas Deutung gab sich schroff, explosiv, in Teilen auch erregend. Unerbittlich peitschte er die Musik und weckte die rhythmischen Kräfte in einer nahezu gefrorenen Kühle zum Leben. Die Schläge kamen zwar messerscharf, wirkten allerdings recht erkaltet in einem Schafott nahen Ton, dem ein wenig die oszillierenden Farbwerte abging. Von den erregenden Vibrationen in den retardierenden Momenten der "Ahnenfeier" ging doch einiges verloren. Auch kam die Körperlichkeit dieser tänzerischen Musik durch den allzu straff rhythmisierten Ausdruck doch ein wenig zu kurz. Keine Frage, dass sich dieses junge Orchester – es befand sich zu gut zwei Dritteln in Damenhand - im Kraftfeld der magischen Klänge recht wohl fühlte. Ein Sonderlob gebührte den virtuosen Schlagwerkern, ebenso dem Fagott für das stupend gespielte Solo zu Beginn und den fabelhaften artikulierenden Blechbläsern. Das Publikum spendete riesigen Beifall.

Wenden wir uns dem Höhepunkt des Konzertes zu, dem Auftritt des Ausnahmepianisten und Kulturbotschafters der EU, Fazil Say. Da saß eine Koryphäe am Flügel, ein Anschlagskünstler mit eminentem Klangsinn und stupender Technik. Wer zu Say ins Konzert geht, zu diesem Energiebündel und Improvisationsgenie, den erwartet ein Faszinosum. Sicher konnte sich der Brillanz des drängenden Dialogisierens, der feinen Filigranarbeit und den geschliffen hingelegten Skalen in Beethovens Drittem Klavierkonzert niemand entziehen. Flott, rhythmisch, lebendig, auch schwelgerisch, gespickt mit einigen dynamischen Heftigkeiten und vielen agogischen Eigenwilligkeiten, so nähert er sich diesem Konzert. Aber wie war es um das klassische Ebenmaß und Formgefühl bestellt? Say ist kein Stilist. Dafür dreht er überaus verliebt an der Temposchraube. Nun schlug der spielerische Rausch im Kopfsatz zwar heftig „Feuer aus dem Geist", doch der rechte kompositorische Hintersinn blieb doch ein wenig im Verborgenen. Lieber gönnt sich Say, mitsummend, diverse theatralische Showgesten, verteilt rhythmische Impulse an das Orchester und improvisiert sich mitreißend in der Kadenzdurch sämtliche Stile, dass einem Hören und Sehen verging. Wie er dann seine improvisatorischen Extratouren steuert und mit ein paar Schlenkern wieder den Anschluss an das Orchester erreicht, das ist sein Geheimnis. Die romantisch-duftende Poesie im Mittelsatz formte er weich, im sehnsuchtsvollem Ton, doch ein wenig im Tempo zerdehnt, nach. Umso mehr verbreitete der Finalsatz eine beschwingte Pianistik, die einfach abhob. Dass die engagiert mitziehenden Bundesjugend-Philharmoniker die mitreißende Macht der Tonsprache Beethovens überaus schlank artikulierten, frei von aufdringlichem Pathos, gehört zu den Pluspunkten der von Ruzicka akkurat betreuten Wiedergabe.

Richtige Klangströme ergossen sich zu Beginn des Konzertes auf die Zuhörer. Denn Klangzauberer Ruzicka, der viel gelobte Komponist, vertonte das sprichwörtlich durch Edgar Allan Poes Story „A Descent into the Maelström" gewordene Naturphänomen, die sich beim Lofoten-Mahlstrom an der Nordküste Norwegens durch die Gezeiten bildenden Strömungen. Ein farbreich instrumentiertes Orchesterstück bringt dies zu wirbelnder Stärke und „gefährlicher Wirkung". Mit großem Engagement widmeten sich die jungen Musiker diesen neuen Klängen, verabreichten zwar keine tönende Schelte, umso mehr machten sie diese „naturhaften Ereignisse" zu einer fesselnden Klangdisposition.

Egon Bezold - Neue Musikzeitung 11. Januar 2010


 

«Rienzi-Preis» für Komponisten Peter Ruzicka


Berlin/Riga (dpa/lno) - Der Komponist, Dirigent und Intendant Peter Ruzicka wird mit dem «Rienzi»-Preis der Kulturakademie und der Nationaloper Lettlands ausgezeichnet. Ruzicka werde die nach Richard Wagners Oper benannte Auszeichnung am 24. Oktober in Lettlands Hauptstadt Riga entgegennehmen. Damit werden Ruzickas Verdienste als Kulturmanager gewürdigt, teilte die Hamburger Honorarkonsulin Lettlands, Sabine Sommerkamp-Homann, am Dienstag mit. Wagner war von 1837 bis 1839 Kapellmeister in Riga. Ruzicka war unter anderem Intendant des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin, der Staatsoper Hamburg und der Salzburger Festspiele. Der Preis wird alle zwei Jahre verliehen.

erschienen am 20.10.2009


 

Großer Gesang in mächtigen Bildern

CELAN in Bremen


Die Wunde, die nie sich schließen will, scheint sich dem künstlerischen Zugriff zu entziehen. Der Holocaust macht sprachlos. Paul Celan indes wollte Adorno widerlegen, der postulierte, nach Auschwitz sei kein Gedicht mehr zu schreiben: Der Jude aus der Bukowina, der in der Sprache der Mörder seine makellose, düstere und kühle Lyrik schrieb und am Trauma der Shoa dennoch zerbrach, schließlich als 50-Jähriger anno 1970 in Paris den Freitod wählte, vermochte in seiner Sprache eine Ebene der Annäherung an das Unsagbare zu finden: subjektiv erinnernd, poetisch implodierend, dabei doch zart tröstlich.

Peter Ruzicka, der den Dichter noch kurz vor seinem Tod besuchen konnte, hat sich Celan angenommen, seine gleichnamige Oper 2001 an der Semperoper uraufgeführt. Am Sonntag hatte bereits die vierte Inszenierung des "Celan" Premiere, am Theater Bremen. Der Komponist dirigierte, Vera Nemirova hat inszeniert.
Ruzickas Opus eignet eine Ästhetik des Fragments, wie am Rande des Verstummens angesiedelt, konzis wie immer, das Grauen mit perkussiver Gewalt und ausdrucksstarkem Sprechgesang offen benennend. Die der Filmästhetik ähnlichen, schnell geschnittenen Szenen (Libretto: Peter Mussbach) werfen Schlaglichter auf das Leben Paul Celans, wechseln wie im Flashback zwischen den Begegnungen des jungen Dichters und jenen des reifen Mannes. Kein Erzähltheater mit seiner klassischen Kausalität haben Ruzicka und Mussbach hier ersonnen, sondern ein kaleidoskopisch postmodernes Musiktheater der vielschichtigen Assoziationen, das die zerrissenen Erinnerungsfetzen einfängt, ohne sie sinnstiftend ineinander zu fügen.

Der berührende, beklemmende Musiktheaterabend bleibt eine behutsame Annäherung an Celan und sein Trauma, schwankend zwischen dem oft banalen Text einer gut gemeinten Betroffenheitskunst und einem bedeutungsschwangeren, wirklich guten Theater, das sich nicht mehr der Bewältigung, sondern der Bewahrung von Vergangenheit verschreibt. Die ungeheure Sogkraft und Spannung der Produktion aber kommt aus dem Orchestergraben, wo Ruzicka mit den Bremer Philharmonikern eine furios forsche, beredte und bewundernswert präzise Lesart seines Werks entwickelt hat. Und sie strahlt von der Bühne, wo die wohl stärksten, einfühlsamsten und genauesten Bildfindungen zu bestaunen sind, die das Werk bislang erlebt hat: Stefan Heyne lässt einen riesigen Kubus aus Büchern über dem charakterisierungsstarken Ensemble schweben, hat so einen Erinnerungsraum par excellence geschaffen. Darin inszeniert Vera Nemirova ohne jeden plakativen Holocaust-Kitsch.
Herrlich surreal zeichnet sie den Club der toten Dichter im Bukarest des jungen Celan. Wunderbar dicht ist ihre Chorregie im zentralen Bild "Das Grauen": Langsam tritt der Chor an die Rampe, entledigt sich seiner Kleider, singt seine eindringliche, das himmlische Jerusalem anrufende Klage und geht in den Tod. Mit einer Prise frechen Humors wagt Nemirova eine Brechtsche Brechung dieser Szene, wenn sie die historisch singuläre Erfahrung in die bundesrepublikanische Gegenwart von Fremdenfeindlichkeit münden lässt. Die Regisseurin emotionalisiert und vergegenwärtigt dabei ganz ohne Zeigefinger - ein großer Wurf wahrhaftigen, zeitgenössischen Musiktheaters.

DIE WELT, Peter Krause, 12. Mai 2009



Abschied vom Ausdruck

Peter Ruzicka dirigiert am Bremer Goetheplatztheater seine Oper "Celan"


Von Arnulf Marzluf

Bremen. Erinnerung ist im schlimmen Fall die Unfähigkeit, traumatische Ereignisse zu vergessen. In der Celan-Oper von Peter Ruzicka, die im Theater am Goetheplatz Premiere hatte, scheint deshalb das Schicksal des Dichters auch eng mit dem mentalen Zustand der Deutschen verknüpft - gestern und heute.

Das Werk steht eigentlich quer zum üblichen Kulturbetrieb der Gegenwart, und die Figuren wirken wie Wiedergänger, Wesen, denen das Sterben nicht recht gelingt und die das unbeschwerte Weiterso verhindern. Celan, das Schwergewicht der Nachkriegslyrik vor allem in den Sechzigern, als Vergangenheit wie Gegenwart Deutschlands hoch im Diskurs einer Vergangenheitsbewältigung standen, kehrt im neuen Jahrtausend irritierend wieder und mit ihm die Erinnerung an die rauchenden KZ-Öfen. Hatte man Celan, dessen Gedichte das Gewicht der Traklschen haben, nicht schon vergessen, waren sie spätestens unter die Räder der Spaßgesellschaft der neunziger Jahre gekommen? Die Inszenierung kommt darauf zurück, gegen Ende, und verknüpft etwas überraschend die Barbarei der Nazizeit mit den Amokläufen der Kinder heute, den Zivilisationsbruch damals mit tektonischen Verschiebungen seelischer Fundamente der scheinbar von der Geschichte unbeleckten Jugend, die frisch und unschuldig mit der Kultur wieder von vorne beginnen kann. In einem die Bühnenrealität durchbrechenden Szenario als Theater im Theater mäht ein kleiner Junge Publikum wie Mitspieler mit seiner Pumpgun nieder - virtuell, versteht sich.

Das übliche Blabla

Kurz zuvor sitzen sie wie im Kino, und wir sehen Interviews, die im April in der Bremer Innenstadt zum Holocaust gemacht worden sind - das übliche Blabla: vergessen ja, vergessen nein, alles schwierig, was haben wir noch damit zu tun? Oberflächenjournalismus, der wie eine kalte Dusche nach den wahnhaft schwankenden und stolpernden Gängen Celans durch eine Umgebung wirkt, die es mit seinen schiefen Projektionen und Ängsten zu tun bekommt.

In einer Bibliothek reißt Celan mit einem Krach die Bücher eines ahnungslosen verdutzten Lesers vom Tisch. Er beschuldigt ihn, Juden zu hassen - die Oper beginnt nach einer stummen Phase mit einem Orchester-"Schlag". Aus den Tischen werden Grabsteine. Es entwickelt sich nichts, Librettist Peter Mussbach reiht sieben Entwürfe genannte, abgeschlossene Szenen aneinander, die auf biografischen Daten des Dichters beruhen. Ein zerfallendes Leben, durchschossen von Rückblenden und nicht loslassenden schwarzen Gefühlen. Seine in Frankreich geheiratete Christine muss ihn einmal daran erinnern: "Du hast deine Eltern nicht umgebracht." Der erfolgreiche Autor sonnt sich in der Verehrung des Publikums, ja kann sich vom Glück berauschen lassen. Er nimmt an einer lockeren Party mit viel Alkohol und entgrenzten Gefühlen teil, um kurz darauf wieder von dunklen Gedanken verfolgt zu werden. Aber auch von Vorwürfen, die ihn künstlerisch ins Mark trafen: Er sei ein Plagiator. Celan hatte Gedichte übersetzt, ein Missverständnis, das gegen ihn ausgenutzt wurde. Man spürt immer wieder, dass Mussbach, von Beruf Psychiater, weiß, wie die Grenzgänge zwischen Wahn und Wirklichkeit verlaufen. Wer sich verfolgt fühlt, findet immer ein Körnchen Wahrheit in der Lüge. Es ist just das Gift, das dem auf die Dauer Sensiblen zusetzt und mit dem Celan nicht fertig wird.

Der Tod in der Seine

Sein Tod in der Seine, von dem nur berichtet wird, steht in unterirdischer Verbindung zu dem der Juden im Gas, eine Kernszene mit großem Chor und Orchester, bombastisch nicht auftrumpfend, sondern ein massenhaftes Anrufen Jerusalems - das einzige Wort -, während die Juden sich entkleiden. Ruzicka komponiert dazu eine Art Choral, eine Säule mit kompaktem Sound, der wie innerlich zersplitternd klingt - Dissonanzen mit erheblicher Zentrifugalkraft. Über dem Grauen öffnet sich der Sternenhimmel, das Quadrat, das ursprünglich die National-Bibliothek symbolisieren sollte, hat ihn freigegeben, hinter ihm treten Rauchwolken auf.

Fast möchte man meinen, die Oper sei eher wie ein Gedicht geschaffen, weil sich Zeiten und Räume verschränken, Celan dreifach auftritt - als Kind und jüngerer wie älterer Mann. Das übrige Personal entstammt ebenfalls aus Nazi- wie Neuzeit gleichermaßen, spielt auf den Ebenen der Erinnerung und der "Gegenwart". Auf diese Struktur muss man sich einlassen, um die Ästhetik der Oper zu verstehen. Die Szenen sind Bilder, weil Erinnerungen aus Bildern bestehen, die man wie geschürzte Handlungen lesen und entfalten kann. Daraus folgt für den Komponisten keine musikalisch zielgerichtete Dynamik, sondern lauter stehende, sich ziehende oder ausbrechende Klänge. Ruzicka komponiert damit die Leere als Essenz gleich mit, wenn Töne langgezogen auftreten wie Bach in den Oratorien den "Halo", den Schein ums Haupt Jesu, als lang ausgehaltenen Ton mitkomponiert.

Kein Text Celans ist vertont, lyrische Floskeln treten freilich auf, wenngleich fragmentarisch wie alles in der Oper. Das verleiht ihr ständig etwas Schwebendes, und Vera Nemirowa retardiert in ihrer Inszenierung (Bühne: Stefan Heyne) entsprechend die Szenen auf der Bühne so, dass das Moment des Kreiselns spürbar wird. Klangflächen und Eruptionen, geräuschintensive Muster - Ruzicka vermeidet bis auf ein schier nicht endendes Streicher-Unisono am Schluss zu einer Klage-Arie der Christine (sehr anrührend Nadine Lehner) das Melos, als sei es schwerlich noch erlaubt. Andere Stimmen wie Sara Hershkowitz (Hilde) waren "verschenkt". Damals, zu Celans Zeiten und den Diskussionen, was nach Auschwitz an Ästhetik noch erlaubt ist, wurde Moderne gleichgesetzt mit dem Fragmentarischen, der Unfähigkeit der Menschen allgemein, ihr Leben buchstäblich noch auf die Reihe zu bringen, eine konsistente Linie zu verfolgen, einer Tradition zu huldigen. Hier verschränkte sich das Unorganische der Künste, das "Abstrakte", das Dissonante mit der Wahrheit des Lebens als dessen Ausdruck. Insofern fällt Celans Leben am Rande der Psychose mit einer davon auch bestimmten ästhetischen Struktur seiner Gedichte oder der Moderne jener Jahre überhaupt zusammen.

Das Sirren des Wahns

Viel Sprechgesang oder Sprechen, ganz kurze Ariosi bestimmen die Sängerrollen, für Celan (Thomas E. Bauer und Yaron Windmüller, Frederik Dybvik-Nilesen) bleibt wenig Gelegenheit, sich musikalisch ausdruckshaft zu präsentieren. Die Figur bleibt notwendigerweise flach, die Bühne wird fast ausnahmslos vom Orchestergraben mit "Blut" versorgt, wenngleich auch hier Ruzicka den Ausdruck an die Grenze der Ausdruckslosigkeit der Personen rückt und mit dem Klang die Stimmung beschreibt - hohes Sirren für den Wahn, Orchesterschläge für den emotionalen Ausbruch. Ruzicka, der nicht nur die Premiere dirigierte, sondern auch die Repertoire-Aufführungen leitet, konnte sich auf die Präzision der Bremer Philharmoniker und der Chöre des Theaters (Einstudierung Tarmo Vaask) verlassen.

WESERKURIER, 12. Mai 2009



Dem Vergessen entrissen

Peter Ruzicka dirigiert in Bremen seine Oper „Celan"


Von Christian Tepe

Als Paul Celan seine „Todesfuge" in deutschen Schulbüchern entdeckte, empfand der Dichter dies als eine Vereinnahmung seiner Sprache durch die Täter und ihre Nachkommen. Zwei Generationen später figuriert die Person Celans bereits auf der Opernbühne und sein Name prangt goldgrundiert auf dem Hochglanz-Programmheft des Theaters Bremen. Hatte Adorno also doch Recht, als er behauptete, es sei „barbarisch", nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben und damit auch die unbekümmerte Kontinuität des Kulturbetriebs seit 1945 anprangerte? Mit Blick auf Celan hat Adorno sein Urteil später revidiert: „Die authentischen Künstler der Gegenwart sind die, in deren Werken das äußerste Grauen nachzittert." Hier setzt auch Peter Ruzicka an. Seine Oper „Celan" handelt in sieben Entwürfen von der Isolation und Verzweiflung des Künstlers, der einer inhumanen Einrichtung der Welt nichts Rettendes entgegenzusetzen weiß als allein seine ohnmächtig gewordene Sprache. In diese Thematik haben Ruzicka und Librettist Peter Mussbach szenisch mehrfach überblendete Spuren aus dem Leben Celans eingelassen, wie die quälenden Schuldgefühle des Dichters, den Holocaust überlebt zu haben, während seine Eltern – und nicht nur sie – den Tod fanden.

Ruzicka hat in seiner Oper kein einziges Wort Celans vertont. Gleichwohl lässt sich eine kompositorische Anverwandlung des dichterischen Idioms bemerken, die tief an das Mitgefühl des Hörers appelliert. Ein schwermütiger, einsam monologischer Grundton durchzieht die sinfonisch ausgerichtete Partitur, unterbrochen von jähen, rasch wieder in sich zusammenfallenden Ausbrüchen, die das Scheitern des künstlerischen Individuums verdeutlichen. Die Bruchstückhaftigkeit des Vorgetragenen paart sich in der Interpretation der Bremer Philharmoniker unter der Leitung des Komponisten mit einem Ernst und einer Emphase des Vortrags, die besonders dann spürbar werden, wenn die Musik wie am Schluss in einem zeitlos wirkenden Unisono der Streicher nur noch von der Leere der Welt nach der „Endlösung" spricht: Klänge, die in ihrer weit ausgreifenden Flächigkeit von Ferne an die schwermütigen Langzeilen der „Todesfuge" erinnern. Die Bremer Philharmoniker sichern dieser Musik am äußersten Rand des Sagbaren eine hohe emotionale Fasslichkeit und Prägnanz.

Dass die Ausdruckskraft der Stimmbehandlung mit Ausnahme des Chors gegenüber dem Orchestersatz zurückfällt, begründet sich von dem Ort der Oper her, die gleichsam im Schatten der Sprachlosigkeit steht. Abgesehen von dem innig schlichten Ton, mit dem Celans Frau (eindringlich: Nadine Lehner) den Dichter in den Freitod verabschiedet, prägt sich trotz eines gut disponierten Ensembles nur wenig Gesungenes der Erinnerung ein. Ganz anders der von Tarmo Vaask probat einstudierte Chor, der eindeutig im vokalen Zentrum der Aufführung steht. Wie der Chor und Extra-Chor des Theaters Bremen die litaneiähnlich wiederholten „Jerusalem"-Klanggebärden in ihrem meditativ-reflexiven Gestus zugleich mit einem Maximum an expressiver Spannung intonieren, ist eine interpretatorische Leistung von singulärem Rang.

Regisseurin Vera Nemirova zeigt in dieser großen Chorszene mit dem Titel „Das Grauen – Bildlose Welten ferner Gewissheit" keine in die Distanz des Klischees entrückten Juden auf dem Weg in die Gaskammern. Wir sehen Menschen von heute, die von den flehentlichen Anrufungen der Ermordeten übermächtigt werden und ihre Kleider ablegen, während sich ein monumentaler, die ganze Bühne beherrschender Bücherkubus anhebt, um den Blick auf das von ihm gleichermaßen verdeckte wie aufbewahrte moralische Universum freizugeben. Ein irritierend starkes Bild – und ein Schock für zahlreiche Zuschauer, die an dieser Stelle das Theater verlassen. Nemirova dringt mit ihrer Arbeit tief in die Welt der Erinnerung ein und macht die unsichtbare Anwesenheit der Toten nicht allein für Celan, sondern für alle Nachgeborenen spürbar: „Wahr spricht, wer Schatten spricht", schrieb Celan.

In der Form eines sarkastischen Intermediums entlarvt Nemirova dagegen die Verlogenheit einer politisch organisierten und pädagogisch kanalisierten Vergangenheitsbewältigung und macht die frivole Verhöhnung der Opfer kenntlich, wenn die Judenverfolgung schließlich gar zum Objekt touristischer Neugierde wird. Damit korrespondieren die Herzlosigkeit und Indifferenz, die eine 2009 in Bremen eigens für diese Opernproduktion entstandene Filmsequenz mit Interviews zum Holocaust bei vielen Befragten offen legt: Nicht gedacht soll ihrer werden, lautet die unausgesprochene Devise zahlreicher Stellungnahmen. Eine Gesellschaft steht moralisch auf der Kippe. Rettendes Eingedenken liegt allein in der Kunst. Aber diese ist von der Grundfarbe schwarz – ohne Goldgrund und Hochglanzästhetik.



Peter Ruzicka für Hölderlin-Oper in Berlin gefeiert

Berlin (dpa)
Den Eklat gab es vor der Premiere: Weil der frühere Intendant der Berliner Staatsoper Unter den Linden, Peter Mussbach, seine Textvorlage entstellt sah, hatte er in letzter Minute seinen Namen aus dem Programmheft streichen lassen.

Doch trotz Querelen und Drohung mit dem Anwalt - am Sonntagabend ging wie geplant die Oper «Hölderlin. Eine Expedition» über die Bühne. Für den Komponisten und Dirigenten Peter Ruzicka wurde es ein großer Erfolg.

Mit «Celan» hatte Ruzicka vor zwei Jahren viel Kritikerlob bekommen. In seinem zweiten Werk für das Musiktheater kehrte er zu einem Dichter zurück. Wer eine musikalische Biografie erwartete, gar einen Einblick in den in geistiger Umnachtung vollzogenen Rückzug des schwäbischen Dichtergenies in den Tübinger Turm, wurde enttäuscht. Oper eigne sich nicht für Biografien, hatte der frühere Intendant der Salzburger Festspiele zuvor wissen lassen.

Hölderlin (1770-1843), in seinen jungen Jahren ein Bewunderer der Französischen Revolution und Freund der Philosophen Hegel und Schelling, tritt als Zeitdiagnostiker an. Er begleitet 13 Menschen auf eine Reise durch 150 Jahre Geschichte. Die Gestalten (gesungen unter anderem von Dietrich Henschel, Stephan Rügamer, Carola Höhn und Anna Prohaska) werden sekundiert von ebenso vielen griechischen Göttern. Sie bekommen nach einer Katastrophe die Chance, ihr Leben neu zu beginnen. Dabei bleibt ihnen nichts ausgespart: Die Zeit der Revolutionen, der Nationalsozialismus, die Studentenrevolte - sogar die Klimakatastrophe der Zukunft.

In der Hölderlin-Welt wie sie Regisseur Torsten Fischer und Bühnenbildner Herbert Schäfer geschaffen haben, ist es vor allem nass. «Und einmal sah ich noch in die kalte Luft der Menschen zurück und schauerte und weinte vor Freuden», leitet zu Beginn ein Zitat aus Hölderlins «Hyperion» in die eisige Tiefe. Ein großes Becken nimmt fast die ganze Bühne ein, durch das die Menschen knöcheltief waten, stolpern oder laufen. Manchmal regnet es von der Decke auf das triste Dasein, das sich vor dem Hintergrund von gigantischen Sozialbauten entfaltet.

Verwahrloste Menschen suchen nach einem Halt, den sie aber weder bei den vielen Göttern noch bei dem Einen bekommen. «Wir durchlaufen alle eine exzentrische Bahn», heißt es bei Hölderlin, der schon sehr früh geahnt hatte, wie sehr der Bruch der Moderne mit den alten Gewissheiten seine Spuren in der geistigen Verfassung der Menschen hinterlässt. Ein Madonnengemälde reißen sie zu Boden, schleifen es über die Bühne - Gott ist tot, menite bereits Hölderlin. Aus den Untoten auf der Suche nach dem besseren Leben werden wechselweise Sozialfälle und Kindermörder, die Götter mutieren zu Effizienzaposteln, die im Managerslang mit Begriffen wie «Synergieeffekte» oder «Clustergespräche» um sich werfen.

Lyrisch kann man Mussbachs Text nicht wirklich nennen. Es ist eine zuweilen derbe, direkte Sprache, in der das «F-Wort» zwar nicht vorkommt, dafür aber Sabine Christiansen und Franz Beckenbauer. Ruzicka und Fischer dürften nach einem Gegengewicht zu soviel Sprachballast gesucht haben und bauten noch einige Hölderlin-Zitate ein - zu Mussbachs Verdruss, der auch andere Striche und Hinzufügungen im Text nicht hinnehmen wollte. Es könne doch nicht falsch sein, Hölderlin in einer Hölderlin-Oper zu zitieren, hatte Ruzicka gekontert.

Dramaturgische Tricks lenken vom simultan eingeblendeten Text ab. Ein roter Faden durch die Jahrzehnte fehlt - es sind die Gestalt der neu geschaffenen Hölderlin-Figur des Empedokles und der Dichter selbst, die sich als Lotsen dieser Expedition durch das beschädigte Leben anbieten. Versehrte im Rollstuhl, eine Kinder mordende Mutter der Soldaten in SS-Uniform - die Bilderflut löst Rätsel aus, Hölderlins Dichtung machen sie nur sehr grobkörnig sichtbar.

Angesichts der Irrungen und Wirrungen bietet Ruzickas Musik Halt: Etwas Wagner, ein wenig Mahler, gleißend-kalte Geigentutti. Hochfrequenztöne und Perkussion verleihen Schärfe. Als sich am Ende zu den Unisono-Violinen die Götter von der Welt verabschieden, entgleiten die Menschen in die Utopie der Schwerelosigkeit, in ein unbeschädigtes Leben ...

© sueddeutsche.de - erschienen am 17.11.2008



PRESSESTIMMEN ZU HÖLDERLIN


Zwei Stunden Musiktheater, gefüllt mit Bildern, die die Zuschauer, zusammen mit der eindringlichen Musik, in ihren Bann zieht. Die Welt auf der Bühne besteht vornehmlich aus Wasser: Knöcheltief waten Sänger und Schauspieler durch ein großes Becken, Regen nieselt auf sie nieder, all das vor der Kulisse eines riesig-tristen sozialen Wohnbaus. Schutz bieten Schirme und Zylinderhüte, Herren im Frack. Ein Teil der Damen trägt schwarze Kleider mit Culs de Paris... Großartige Leistungen liefern Schauspieler wie Sänger, unter Letzteren Dietrich Henschel, Anna Prohaska, Stephan Rügamer und Carola Höhn. Aufopfernd spielend und kämpferisch das Ensemble... Die Führung der Dutzenden Personen, die gleichzeitig die Bühne füllen, sitzt exakt, Bühnenbild und szenische Gestaltung gehen unter die Haut.

- DIE PRESSE, Wien, 18.11.2008 -


Nun kommt ... Peter Ruzickas Musik ins Spiel, die trotz aller teils heftigen Verdichtungen aus einer tiefen Zartheit steigt, alle Trauerklänge der Geschichte von Johann Sebastian Bachs Passionen bis zu Gustav Mahlers lebensübersatten Streicher-Kantilenen in sich einfängt, neu durchleidet, durchlichtet und sublimiert. Diese Musik klingt wie eine Beschwörung, die vielleicht um ihre Sinnlosigkeit weiß, aber wenigstens - wie Empedokles - etwas versucht haben will... Dafür lässt sich kaum ein besseres Ensemble denken als die vom Komponisten selbst geleitete, im weltschmerzlichen Entsagungston bestens geübte Staatskapelle Berlin... Regisseur Torsten Fischer hat eine recht verkopfte Vorlage in beachtlicher Weise theatertauglich gemacht.

- SALZBURGER NACHRICHTEN, 18.11.2008 -


Die musikalischen Hölderlin-Inseln dominiert Dietrich Henschel. Er ist meist Empedokles, der Menschheitsbeglücker, der Revolutionär, der sich aus Verzweiflung über die Geistlosigkeit der Welt in den Ätna stürzt. "In lieblicher Bläue" träumt er von einer versöhnten Welt, von Spiritualität, und Regisseur Torsten Fischer findet im Bild der sich im Kreis um Henschel kuschelnden, brillant singspielenden Bühnencrew eine szenische Entsprechung, die übers Stück hinausgeht.

- SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 18.11.2008 -


Peter Ruzicka hat seine feine Partitur, die er selbst dirigiert, aus einer Vielfalt unterschiedlicher, höchst sinnlicher Klangmomente und (vor allem) Klangflächen gewoben, die im Laufe des Abends leicht verändert wiederkehren. Seine hörbar von Mahlers Brechungen der Romantik inspirierte Musik, die mit Erinnerungen an sich selbst wie an die weiter entfernte musikalische Traditionen spielt, macht die Ohren wach und sensibel - auch für die Sehnsucht nach einer Zielgerichtetheit zeitgenössischer Klänge, die zuletzt im postmodern Beliebigen verloren ging.

- STUTTGARTER NACHRICHTEN, 18.11.2008 -


Ruzickas Musik, die trotz aller heftigen Verdichtungen aus einer tiefen Zartheit steigt, alle Trauerklänge der Geschichte von Bachs Passionen bis zu Mahlers lebens-übersatten Streicher-Kantilenen in sich einfängt, schmerzvoll neu durchleidet, durchlichtet und sublimiert. Kein Epigonentum, sondern eine Beschwörung, die vielleicht um ihre Sinn-Losigkeit weiß, es aber wenigstens - wie Empedokles - verucht haben will. . Ein Projekt, das weitere Versuche verdient hat.

- LEIPZIGER VOLKSZEITUNG, 28.11.2008 -


In einer Lyrik des Disparaten von ganz eigenem Klang erreichte die Komposition ihren intensivsten Aggregatzustand. Zuvor staunte man, wie "geschlossen" und organisch - nach der Ästhetik des Fragmentarischen in "Celan" - einige Passagen daherkamen. Manchmal klingt das fast so, als hätte der späte Mahler eine Oper geschrieben. Doch dieses "Aufheben" von Tradition artikuliert sich nicht als bewusstseinsverleugnender Kitsch, sondern eben als historisch hellsichtige "Expedition". Es geht hier um den Versuch, mit den Mitteln der Musik etwas neu zu erschließen, was dem Werk des Dichters eingeschrieben, uns aber verloren gegangen ist. Auch in dem Dirigenten Peter Ruzicka erkannte man bei der Uraufführung diese Sehnsucht wieder. Er, der eine Bruckner-Symphonie mit geradezu lakonischer Strenge auf ihr Gefüge zurückführen kann, legte bei der Interpretation seines eigenen Werks größten Wert auf expressive Intensität. Dadurch betonte er gewissermaßen die konventionellen Züge seiner "Hölderlin"-Expedition - aber durchaus auch deren Schönheiten. Dieser Abend geriet zu einem Plädoyer für die Sinnlichkeit der "Oper" - auch darin trifft sich Ruzicka, der bei der Uraufführung gefeiert wurde, mit Hölderlin, der im Schönen den Abglanz der erlösenden Einheit sah.

- DIE DEUTSCHE BÜHNE, Januar 2009 -


Ein Wasserbecken beherrscht die Bühne (Herbert Schäfer). Ein mystischer Ort zwischen Hochhaus-Siedlungen, in denen schwarze Hölderlin-Zeitgenossen wandeln. Mal senkt sich ein Spiegel, mal fahren durchsichtige Vorhänge hernieder: eine schöne, offene, zuweilen dürftig choreographierte Versuchsanordnung. Gesungen wird phänomenal, gesprochen achtbar. Einer ragt heraus: der von Hölderlin thematisierte Philosoph Empedokles, den Dietrich Henschel hochintensiv verkörpert, dabei deklamatorisch genau und fast rücksichtslos singend... Es ist eine Musik, in Varianten wiederkehrend, schleichend und suchend, fein verästelt und sorgsam instrumental abgeschmeckt, auch von hoher theatraler Qualität, die fast die Kulinarik, mit Sicherheit aber die Spätromantik von Ruzickas großem Mentor streift: von Hans Werner Henze. Die dunkle, geerdete Klanglichkeit kommt der Staatskapelle Berlin, von Ruzicka selbst geleitet, entgegen. Und am Ende verengt sich alles zu einer starken Gebärde: einem Streicherton, der sich bald fortissimo in die Gehörgänge bohrt, bevor er zusammensackt, zu einer Bitte. Wortlos, dringlich und unbeantwortet...

- MÜNCHNER MERKUR, 18.11.2008 -


Peter Ruzickas Beschäftigung mit Hölderlin ist lange erprobt; Er sieht in ihm (wie in Celan) den Dichter und Denker der Zukunft. Was die hochreflektierte Partitur nur wenig leisten kann, ist die Umsetzung der Ideen in sinnlich-gestische Konkretheit. Ruzickas instrumental ausladende Partitur präsentiert Spielarten avantgardistischer, kontrapunktisch verästelter Orchester- und Kammermusik, lässt darin dramatische Impulse, Steigerungen, Klangballungen kreisen oder zieht sich zurück in Zonen des Verrinnens. Des Schweigens. Ruzicka selbst steuerte die Berliner Staatskapelle aufmerksam durch die Tonfluten, durchmaß mit Präzision und Hingebung zwei pausenlose Stunden. Am Ende spendete ein beeindrucktes Auditorium Beifall, vor allem für das hoch motivierte, der ungewöhnlichen Aufgabe glänzend gewachsene Darsteller-Team, aus dem Dietrich Henschel und Arttu Kataka sowie Carola Höhn, Anna Prohaska und Silvia de la Muela stimmdarstellereisch herausragten.

-OPERNWELT, JANUAR 2009 -



Peter Ruzicka "Artist of the Year" des Beijing Music Festivals 2008


Anlässlich eines vor ihm dirigierten Konzertes des China Philharmonic Orchestra in Peking am 4. Oktober 2008 wurde Peter Ruzicka die Auszeichnung des "Artist of the Year 2008" des Beijing Music Festivals verliehen. In seiner Laudatio verwies der künstlerische Leiter des Festivals, Long Yu, auf die besonderen Verdienste Ruzickas, als Dirigent wie als Intendant auf musikalische Brückenschläge zwischen China und Europa, insbesondere durch die Förderung zeitgenössischer Musik, hinzuwirken.

In dem Konzert in der China Concert Hall erklangen Werke von Wagner, Messiaen, Unsuk Chin (Erstaufführung) und Ravel.



Peter Ruzicka erhält Akademie-Plakette


Hamburg (dpa/lno) - Der Komponist Peter Ruzicka und der Maler Friedrich Einhoff erhalten die Plakette der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Die undotierte Auszeichnung gilt als große Ehre und wird nur Persönlichkeiten zuerkannt, deren künstlerisches Werk von überragender Bedeutung ist, teilte die Akademie am Dienstag in Hamburg mit. Die Lobreden bei der Verleihung am 24. November 2008 im Atlantic Hotel Kempinski werden Werner Hofmann und Wolfgang Rihm halten. Zu den bisherigen Preisträgern der Plakette gehören die Schriftsteller Thomas Mann, Siegfried Lenz und Günter Grass sowie die Schauspieler Will Quadflieg und Katharina Thalbach.

erschienen am 07.10.2008 © Die Welt

Der Urkundentext lautet:

Der Komponist Peter Ruzicka ist von seinen ersten Werken an ein Meister des reflektierten Befragens. Seine Musik meidet den Gestus undurchdachten Behauptens; sie hat sich den verantwortungsvoll durchgeformten Wechsel von Gestalt und Abbruch gleichsam antiphonal bewahrt. Niemals sind Ruzickas sensibel durchgehörte Werke in der Gefahr, affirmativ zu werden, gleichwohl sind sie von repräsentativer Kraft und Dignität. Dies erklärt auch ihren anhaltenden internationalen Erfolg. Immer wieder gelingt es Ruzicka, die auch literarisch höchst bedeutsame geistige Welt seiner Recherchen und Fragmentierungen zu eindrucksvollen Großwerken für das Musiktheater zusammenzufassen. Der Meisterschaft im Gebrauch seiner künstlerischen Mittel entspricht die Integrität seines Wirkens als einer der ganz großen Gestalter des heutigen Musiklebens. In allen seinen bisher eingenommenen Positionen hat er Außerordentliches geleistet und ermöglicht. Ruzicka hat den geistigen Horizont des Musiklebens durch sein untrügliches Gespür für künstlerische Qualität, seine Urteilssicherheit und ästhetisch-theoretische Kompetenz nachhaltig erweitert. Sein Wirken als Künstler und Intendant setzt die notwendigen Zeichen gegen die bedrohlich anwachsende öffentliche „Event-Mentalität". Die geistige Welt ist ihm zu großem Dank verpflichtet.
(Wolfgang Rihm)



Münchner Stadtrat beschließt weitere Zusammenarbeit bis 2012

Peter Ruzicka bleibt Leiter der Münchener Biennale


München, 09.10.2008. Der Komponist, Dirigent und Kulturmanager Peter Ruzicka bleibt bis mindestens 2012 Leiter der Münchener Biennale für zeitgenössisches Musiktheater. Dies hat der Kulturausschuss des Münchner Stadtrates beschlossen.

Die Münchener Biennale, die 1988 von Hans Werner Henze gegründet wurde, steht seit 1996 unter Ruzickas Leitung. In den vergangenen 20 Jahren wurden dort mehr als 80 Musiktheaterwerke uraufgeführt. 2010 wird sie im April und Mai das zwölfte Mal stattfinden, dann unter dem Motto "Der Blick des Anderen".

Peter Ruzicka wurde 1948 in Düsseldorf geboren. Nach einem Studium in den Fächern Klavier, Oboe und Kompositionstheorie am Hamburger Konservatorium setzte er seine Ausbildung als Komponist bei Hans Werner Henze und Hans Otte fort. Zugleich studierte er noch Rechts- und Musikwissenschaften in München, Hamburg und Berlin. Neben seiner Tätigkeit als Dirigent wirkte Ruzicka von 1979 bis 1987 als Intendant des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin. Von 1988 bis 1997 war er ebenfalls Intendant der Staatsoper Hamburg und der Hamburger Philharmoniker. Seit 1990 ist er Professor an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. 1999 berief man Ruzicka zum Präsidenten der Bayerischen Theaterakademie. Von 2001 bis 2006 übernahm er als Intendant die künstlerische Leitung der Salzburger Festspiele. Für seine Kompositionen erhielt Ruzicka unter anderem den Louis Spohr Musikpreis sowie den Unesco-Preis "International Rostrum of Composers".



Mit den Fühlern der Zeit

Zum sechzigsten Geburtstag des Komponisten und Intendanten Peter Ruzicka


Ein Intendant, der in seiner Amtszeit von nicht einmal einem Jahrzehnt neben dem tradierten Repertoire als Uraufführungen Dieter Schnebels "Vergänglichkeit", Wolfgang Rihms "Eroberung von Mexiko", Alfred Schnittkes "Historia von D. Johann Fausten", Rolf Liebermanns "Freispruch für Medea" und, zuletzt und am gewichtigsten, Helmut Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern" herausbringt, braucht sich um seinen Nachruhm keine Sorgen zu machen: Die Musikwelt würde immer wieder von einer legendären Ära an dieser Oper sprechen.

Ein solches Wunderhaus hat es nicht in der Phantasie, sondern höchst wirklich gegeben: die Hamburgische Staatsoper unter der Doppelintendanz von Peter Ruzicka und, als Musikchef, Gerd Albrecht in der Zeit von 1988 bis 1997. Das Hamburger Haus markierte damals weltweit die Spitze unter den modern ausgerichteten Musiktheatern.

Aus und vorbei? Nicht für Peter Ruzicka. Der Appetit auf Ruhm war bei weitem nicht gestillt. Von Hans Werner Henze übernahm er im Jahr 1997 die künstlerische Leitung der Münchner Biennale für zeitgenössisches Musiktheater, die sich bis auf den heutigen Tag als wichtiges Laboratorium für Erkundungen eines neuen Musiktheaters jenseits hergebrachter narrativer Formen darstellt.

Figaro hier, Figaro da: Von München nicht weit entfernt liegt Salzburg. Als Gerard Mortier nach zehn Jahren die Festspiele verließ, fiel die Nachfolgerwahl fast automatisch auf Peter Ruzicka als neuen künstlerischen Direktor der Salzburger Festspiele. Ruzicka schien den Salzburger Verantwortlichen als Einziger ein Garant dafür zu sein, dass die inhaltliche Modernisierung der Festspiele unter Mortier eine Fortsetzung findet. Das traf für Ruzickas fünfjährige Intendanz ohne Einschränkungen zu, auch wenn im Einzelnen einige Abstriche erfolgen mussten, meist aus finanziellen Gründen.

Das Schlussfeuerwerk setzte Ruzicka in seinem eigenen Finale: zu Mozarts zweihundertfünfzigstem Geburtstag alle zweiundzwanzig Bühnenwerke des Komponisten bei den Festspielen im Jahr 2006. Eigentlich ein Wahnsinn, doch einen kühlen Kopf, wie ihn Ruzicka besitzt, bringt so etwas nicht aus der Fassung. Es war vor allem eine bemerkenswerte logistische Leistung. Künstlerisch blieben bei dem Mammutunternehmen zwangsläufig auch einige Flops nicht aus. Aber darüber ist inzwischen schon das Gras gewachsen. Es bleibt die magische Zahl: Alle zweiundzwanzig!

Als Peter Ruzicka schon vorzeitig wissen ließ, dass er seinen Salzburger Fünfjahresvertrag nicht über das Jahr 2006 hinaus verlängern würde, wies er, zurückhaltend, wie es seinem Temperament entspricht, nicht auf die aufkommenden Missstimmungen über ihn in der Stadtpolitik und im Festspieldirektorium hin, um seinen Rückzug zu erklären, sondern auf seine Pläne als Komponist: Die Fertigstellung seiner "Hölderlin"-Oper, die im Herbst 2008 an der Berliner Lindenoper ihre Premiere haben soll, verlange seine volle Konzentration. Peter Ruzicka hat es auf bewundernswerte Art immer wieder verstanden, seine institutionellen Engagements mit seinen kompositorischen Ambitionen zu kombinieren. Der ausgebildete Jurist in Ruzicka versteht es meisterhaft, sich selbst, seine eigene Zeit zu organisieren.

Die Organisation von Zeit spielt auch in vielen seiner Kompositionen eine wichtige Rolle. Ruzickas Komponieren ist im Laufe der Zeit zu einem dichten Netzwerk unterschiedlichster Beziehungen verwachsen. Begriffe wie Ferne, Nähe, Fragmentierung gewinnen entscheidende Bedeutungen. Wie Vektoren in der Geometrie strecken sich die Fühler auch zu anderen Komponisten aus, zu Schumann, Haydn, die als Vorlagen reflektiert werden. Auch zur Literatur und zur Philosophie: Ruzickas innere Affinität zu Celan, dessen "Todesfuge" er schon 1968 vertonte, besser: adaptierte, findet ihren Abschluss in der "Celan"- Oper von 1999. Es ist - selbstverständlich, möchte man hinzufügen - keine veroperte Biographie, vielmehr eine Annäherung an das Innere der Figur, wobei diese Innenperspektive zugleich ein Reflex auf die umgebende Zeit ist. Von der "Hölderlin"-Oper darf man eine entsprechende dramaturgische Struktur erwarten: eine Reflexion über einen deutschen Dichter, dessen psychische Dispositionen ohne die ihn umgebende Zeit nicht denkbar sind.

Ruzickas Komponieren ist in seiner imponierenden Fülle immer auch ein Vorantasten, eine vorsichtige Fragestellung: Musik als spannender Diskurs darüber, was Komponieren heute sein muss, wenn die Musik auf dem gleichen Bewusstseinsstand wie das Denken in Philosophie, Geistesgeschichte oder Naturwissenschaft stehen will.

Dass sich Peter Ruzicka vor kurzem auch als Mitbewerber in Bayreuth empfohlen hat, möchte man gern als Überraschungsgag betrachten: Lasst mich den Löwen auch spielen! Der Komponist Ruzicka ist jetzt wichtiger als alles Organisieren und Dirigieren. Heute wird er sechzig Jahre alt.

Gerhard Rohde, F.A.Z., 03.07.2008, Nr. 153 / Seite 33



Rastlos Wege finden im Gestrüpp der Gegenwart

Der Komponist, Intendant und Dirigent Peter Ruzicka wird sechzig


„Und wie steht es um unsere Kultur, um Europa, den alten Kontinent: Aufstieg oder Niedergang? ‚Ich sehe in Jahr und Tag kaum ein Heft Noten, das mich erfreut, dagegen viele, die mich gar physisch unwohl machen können', bekannte Johannes Brahms vor bald 150 Jahren. ‚Es ist ja wohl zu keiner Zeit eine Kunst so malträtiert worden, wie jetzt unsere liebe Musik. Hoffentlich wächst im Stillen Besseres hervor, sonst würde sich ja unsere Zeit in der Kunstgeschichte wie eine Mistgrube ausnehmen'."

Diese Zeilen, dieses Brahms-Zitat verwendete der am 3. Juli 1948 in Düsseldorf geborene Komponist Peter Ruzicka, um seine Antrittsrede 2002 bei den Salzburger Festspielen in die gewünschte Richtung zu bringen. So aber hat er immer gedacht und gearbeitet. Er weiß, dass die Gegenwart schöpferisch immer an sich selbst verzweifelt, dass sie nur noch Irrgänge und das Ende der Kunst nahen sieht. Und er weiß, dass aus diesem Gestrüpp immer wieder Blüten heranwachsen, vielleicht gerade dort, wo man sie am wenigsten vermutete. Auf dieser unerschrocken zuversichtlichen Basis lässt es sich gut komponieren, zugleich aber prädestinierte ihn dieses Vertrauen in die allgemein wirkende schöpferische Kraft auch als Organisator oder als künstlerischen Leiter. Und das schon ab jungen Jahren! So wirkte er von 1979 bis 1987 als Intendant des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin, von 1988 bis 1997 stand er der Hamburgischen Staatsoper vor, ab 1996 übernahm er von Hans Werner Henze die Münchener Biennale für neues Musiktheater und 2001 bis 2006 war er Intendant der Salzburger Festspiele. Noch einen dritten Arbeitssockel gibt es: das Dirigieren. Und spätestens hier fragt man sich, wie ein Mensch überhaupt diese Fülle an Tätigkeiten, wo eine einzelne schon manchen überfordern würde, zu leisten vermag (das kompositorische Werk hat einen stattlichen Umfang von der großen Celan-Oper über etwa 30 große Orchesterwerke, bis hin zu Vokal- und Kammermusikwerken).

Es liegt, so betont Ruzicka immer wieder, an der Ökonomie. Vielleicht hat diese Ökonomie schon ihre Wurzeln in Ruzickas Ausbildung, er studierte parallel Rechts- und Musikwissenschaften, kompositorische und pia­nistische Unterweisungen hatte er schon davor zwischen 1963 und 1968 am Hamburger Konservatorium neben der Gymnasialzeit erhalten. Die Disziplin der Rechtswissenschaften mag auch auf die schöpferische Arbeit eingewirkt haben. Jedenfalls steckt Ruzicka die Zeiträume eines Jahres genau ab, es gibt Monate, wo er sich ausschließlich dem Komponieren widmet, wo er gleichsam abtaucht und für kaum einen anderen Menschen greifbar ist, dann wieder widmet er sich mit ähnlicher Ausschließlichkeit den Intendantentätigkeiten und verdrängt gleichsam das eigene schöpferische Denken ins Unterbewusste (wo es freilich fortwirken mag). Das Dirigieren bedeutet so etwas wie Ausflüge, nicht zuletzt, um die musikalische Welt, die Ruzickas Denken nahezu ausschließlich bestimmt, noch aus dritter Warte und mit fruchtbaren Wechselwirkungen zu betrachten.

Und dieses wesentliche Moment der Wechselwirkung hat immer mehr auch Ruzickas kompositorisches Denken beeinflusst. Nachdem seine frühen Arbeiten noch unter dem Einfluss der damaligen Avantgarde standen, nahmen die Werke ab den 70er-Jahren (Ruzicka war da gerade Anfang 20!) eine ganz eigene Physiognomie an. Es gibt Hinwendungen zu anderen Komponisten, seien es Schumann, Webern, Haydn oder auch der Renaissance-Musiker Tallis, ebenso zur Literatur und zur Philosophie.

Celan etwa wird zu einem Schwerpunkt des Denkens, mehrere Stücke entstanden in Bezug auf den Dichter und gipfelten schließlich in der großen Celan-Oper von 1999 (zurzeit schreibt Ruzicka, ebenfalls nach einigen Stücken der Annäherung, an einer Hölderlin-Oper). So entsteht auch zwischen den einzelnen Kompositionen ein Flechtwerk von Beziehungen, was hier Andeutung ist, steht da im Zentrum, die Begriffe des Sich-Näherns, des Entfernens, des Verwandelns, des Vergessens, des Verschwindens nehmen eine immer größere Rolle in seinem Schaffen ein. Eines möchte Ruzicka dabei nie aus den Augen verlieren: den Begriff des schöpferischen Vorankommens, den er von der alten Avantgarde der 50er- und 60er-Jahre mit auf den Weg nahm und den er jetzt mit dem Begriff der Zweiten Moderne (auch über organisatorische Vermittlung) an die heutige Jugend weitergeben möchte.

Peter Ruzicka ist dabei rastlos wie immer. Sein Elan ist ungebrochen und wird auch noch viele Jahre auf unser Musikleben befruchtend einwirken. Die nmz gratuliert zum 60. Geburtstag und wünscht eine niemals nachlassende Energie!

Reinhard Schulz (Neue Musikzeitung 7/8, 2008)



Ehrendoktorwürde für Peter Ruzicka


LampsonRuzickaElmar Lampson (l.) verleiht den Titel an Peter Ruzicka.
Foto: Patrick Piel

"Es ist eine Ehre, ein Stück von und für Peter Ruzicka zu spielen", sagt Daria-Karmina Iossifova, Studentin an der Hochschule für Musik und Theater. Dort wurde gestern die Ehrendoktorwürde an den Komponisten, Dirigenten, Kulturmanager und Juristen Peter Ruzicka verliehen, der von 1988 bis 1997 Intendant der Hamburgischen Staatsoper war.

Seit fast zwei Jahrzehnten lehrt der erfolgreiche Musiker zudem das Fach Kulturmanagement an der Hochschule am Harvestehuder Weg. "Peter Ruzicka verkörpert das Leitmotiv unserer Hochschule: künstlerische Exzellenz und vielfältiges Wirken", sagte Präsident Elmar Lampson in seiner Laudatio vor rund 60 Gästen, darunter Dirigent Justus Frantz, Armin Sandig (Freie Akademie der Künste), Musikwissenschaftler Hermann Rauhe und Michael Lang (Winterhuder Fährhaus). Auch Klaus von Dohnanyi sprach ein Grußwort - "nicht als ehemaliger Bürgermeister, sondern als dankbarer Bürger" - und würdigte Ruzicka als langjährigen Freund, der viel für die Kunst in der Hansestadt getan habe. "Außerdem freue ich mich immer, wenn ich bei Opernpremieren neben ihm sitzen darf", sagte Dohnanyi.

Das Vergnügen hat er oft: Der neue Ehrendoktor der Hochschule kehrt trotz seiner zahlreichen hochkarätigen Engagements in aller Welt regelmäßig zurück an die Elbe. "Ich bin seit 40 Jahren in der Stadt und komme immer wieder gern zurück", verriet der 60-Jährige, der einen Wohnsitz im grünen Marienthal hat. "Ich bin ein echter Hanseat", fügte er lächelnd hinzu. "Das größte Privileg aber ist es, Komponist zu sein."
(HA)

vlkf (Hamburger Abendblatt, 9. Juli 2008)



nach oben/back to top