Zum Schaffen Peter Ruzickas
1967-2000 (Peter Becker)
Von der Trauermusik für die Opfer des Krieges in Vietnam ESTA NOCHE (1967) des neunzehnjährigen Peter Ruzicka führt eine verborgene Spur zur STELE FÜR PAUL CELAN (1985). Verborgen, weil der weite Atem, von dem die vox humana im Frühwerk getragen wird, im letzten Satz der CELAN-Kantate in einer weit ausschwingenden Vokalise und wie unvermittelt wieder hervorbricht. Dass dieser ,Canto' indessen sehr wohl vermittelt ist, und zwar durch seinen eigenen Tod, der sich in der subtil ausgehorchten Partitur des 5. Satzes vollzieht, berührt einen zentralen Aspekt der Kompositionsästhetik Ruzickas, in der Mitteilen und Verschweigen, Erschaffen und Zerstören, Werden und Vergehen dialektisch aufeinander bezogen sind. ,Verborgen' darf man diese Spur auch im Blick auf das umfangreiche OEuvre nennen, in dem Musik als ... FRAGMENT... (1970) und STILLE (1976), TORSO (1973) und INTROSPEZIONE (1969/70), als GESTALT UND ABBRUCH (1979) sich selbst befragt. Im Schlusssatz der CELAN-Kantate hingegen berührt uns die Schönheit einer Musik, die nicht länger über Musik reflektiert, sondern die - schmerzhaft genug - zu sich selber gekommen ist, einer Musik, die ICH sagen kann wie ein Jahr zuvor der Canto in SATYAGRAHA: „,Satyagraha' meint: Festhalten an einer als unbedingt, als unumstößlich erkannten Überzeugung, Wahrheit ohne Relativismus. In meiner Orchesterkomposition gerät ein gleichsam unendlicher, insistierender ,Canto' immer stärker in das Kräftefeld eines orchestralen Abbruchs, scheint vorübergehend von ihm überlagert, aufgehoben, in Frage gestellt zu sein. Der ,Canto' behauptet sich aber als ,wahre', als eigentliche Gestalt, als Grunderfahrung des musikalischen Bewusstseins, an der festgehalten wird."(Peter Ruzicka). Hier hat Ruzickas Begegnung mit dem symphonischen Werk von Allan Pettersson, insbesondere mit dem ,Canto' seiner Siebten Symphonie (Musik als ,langer Blick', P. R.) ihre Spur hinterlassen.
Stand sein Schaffen gegen Ende der sechziger Jahre noch ganz im Banne der „Vätergeneration" (Henze, Ligeti, Stockhausen), so lassen sich seit ,... FRAGMENT...' (1970) Mahler, Webern und Celan als die trigonometrischen Punkte bezeichnen, die von nun an den ästhetischen Kurs markieren und die selbst noch Werke so unterschiedlicher Intention wie ,Befragung' (1974), ,... DEN IMPULS ZUM WEITERSPRECHEN ERST EMPFINGE' (1981) und ANNÄHERUNG UND STILLE (1981) zu einem OEuvre zusammenbinden, von dem man sagen darf, dass es sich auf immer neue Weise treu geblieben ist. Die Vorstellung eines ,work in progress' kennzeichnet in besonderem Maße auch den inneren Zusammenhang derjenigen Werke Ruzickas, in denen sich die Auseinandersetzung mit der Lyrik Paul Celans spiegelt: TODESFUGE (1968/69), ,... FRAGMENT...' (1970), GESTALT UND ABBRUCH (1979) und ,... DER DIE GESÄNGE ZERSCHLUG' (1985). - Ruzickas Affinität zu Gustav Mahler verdankt sich nicht zuletzt der Exegese Theodor W. Adornos, der die aktuellen Brüche in Mahlers Musik als ,Antithese von Weltlauf und Durchbruch' umschrieben und das triviale Moment bei Mahler als ,dialektische Brechung' identifiziert hat.
Der bei Mahler zum Formgesetz geratene Bruch mit dem verfügbaren Material gewinnt Beispielcharakter in einer historischen Situation, in der Ruzicka die Material-Evolution der 50er und 60er Jahre auf ihren Endpunkt zusteuern sieht. Ohne den Stachel des Neuen, ohne ein Segment konkreter Utopie müsse Komponieren heute bis zur Entäußerung mit vorgegebenem Material auskommen; im Sinne eines ästhetischen Fortschritts sei kein neuer Stachel in Sicht. Das Material sei nicht direkt zu nehmen, es müsse vielmehr verdinglicht, uneigentlich erscheinen in einer ,Musik über Musik'. Werke wie IN PROCESSO DI TEMPO... (1971) oder BEFRAGUNG (1974) gleichen Katalogen von Gefundenem, das in Allusionen, in einem Als-ob präsent, polemisch beleuchtet wird. - Im Spannungsfeld von Gefundenem und Erfundenem, das für Ruzickas Schaffen so charakteristisch ist, bezeichnet die Anverwandlung Weberns den anderen Pol: Sigle der Erfindung bei Ruzicka ist vor allem die Kraft zur Verdichtung, der Mut zum Fragmentarischen, die Entschiedenheit in der Zurücknahme bis hin zur absoluten Stille und die ebenfalls für Webern kennzeichnende Verantwortung vor dem kompositorischen Detail, die beseelte Differenzierung noch des einzelnen Tones.
Henze, Ligeti und Stockhausen als Vor-Bilder für das Frühwerk, Mahler, Webern und Celan als In-Bilder seiner Musik seit 1970 - die Erfahrung Pettersson datiert in den frühen achtziger Jahren - : vor diesem Hintergrund hat sich ein Schaffen entfaltet, das in der Vielfalt der Genres, in der Kraft der Inspiration und in der souveränen Beherrschung des kompositorischen Metiers gleichermaßen seinen Rang begründet sieht.
Die Namen von Nelly Sachs (AUSGEWEIDET DIE ZEIT, 1969), Georg Trakl (ELIS, 1969) und Paul Celan (s. o.) stehen für den hohen lyrischen Anspruch, der diesem Schaffen mit der Wahl des Sujets mitgegeben ist. Ruzicka enträtselt die Worte nicht, er beleuchtet sie, erschließt sie allenfalls dem Zugang des Hörers, oder seine Musik umschweigt den Text als das geheime Zentrum des Werkes.
Im Flötenkonzert EMANAZIONE (1975) und in der kammermusikalisch verknappten Partitur des zweiten der FÜNF BRUCHSTÜCKE (1984-87) changiert die virtuos aufgeladene Musik unablässig zwischen den beiden Stadien der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit: „Virtuosität wird zum einen als extreme Verkörperung des emotionalen Ausdrucks eingesetzt; zum anderen wird sie lediglich als Attitüde, als etwas Scheinhaftes - man könnte sagen - ,vorgeführt' (...), ein Versuch, die Dialektik der Virtuosität bewusst zu machen." (P. R.) - Im negativen Cellokonzert IN PROCESSO DI TEMPO... (1971) artikulieren sich drei weitere Aspekte der Kompositionsästhetik Peter Ruzickas. ,Negatives Cellokonzert' besagt, dass die Rolle des Solisten umgekehrt bzw. ad absurdum geführt wird. Zunehmende Brüche in der Kommunikation mit den 26 Instrumentalisten, Demontage seines Instruments durch Herabstimmen der tiefsten Saite, die endlich schlaff über dem Griffbrett hängt, Schweigen an der - nach geläufigem Verständnis des ,Konzerts' - Stelle höchster Beredsamkeit und virtuoser Selbstdarstellung, der Kadenz, markieren den hörbaren, durch theatralische Attitüden im Konzertsaal noch verstärkten Eindruck eines konsequent protokollierten Verfalls der ästhetischen wie der personalen Identität des Solisten. Tonbandeinspielungen mit Mahler-Zitaten und Wassergeräuschen machen die Liquidierung des Subjekts sinnfällig, die sich im Verlaufe der Zeit, ,in processo di tempo', vollzieht. Ruzicka stellt jene Brüche in der Kommunikation zwischen dem Solisten und den anderen Instrumentalisten im Medium postserieller Klischees vor. Wer oder was immer sich hinter diesem Begriff verbergen mag (Aleatorik, Musikalisches Theater, Musique concrète, Schlagwerk; Cage, Pousseur, Berio, Penderecki, Serocki, Kagel, Brown, Schaeffer): alles scheint verfügbar geworden im Fundbüro der Avantgarde. - Mahler-Rezeption und Materialkritik werden von einer dritten Ebene durchkreuzt und überlagert, die man ,Manipulation des Hörers' nennen kann. Die Metamorphose, die das musikalische Material vom ungestümen Einsatz bis zum ,fade out' durchmacht, evoziert durch verschiedene Aggregatzustände und Ereignisdichten ein Zeitempfinden, von dem der Hörer in Anspruch genommen wird. Das Zeitbewusstsein des Hörers ist im zweiten Teil (Erfahrung des Zeitraumes) ungleich intensiver als im ersten Teil (Erfahrung des Zeitinhalts). Das Werk ist aber nicht nur formell vom Zeitbewusstsein her aufzuschlüsseln: wichtig ist auch die materiale Seite, der Zeitinhalt. Die Qualität des musikalischen Materials verändert sich mit der Zeit: was zu Beginn erklingt, könnte nach dem Formplan von ,In processo di tempo ...' nicht am Schluss stehen, nichts kehrt wieder, nichts ist austauschbar. Weitere Werktitel wie METASTROFE (Zeitumkehr) (1971), AUSGEWEIDET DIE ZEIT (1969), ZEIT und Z-ZEIT für Orgel (1975) lassen den Stellenwert dieses Aspekts im Schaffen von Peter Ruzicka ermessen.
Zeit und Zitat, Spielen (auch in und mit überbordender Virtuosität) und An-Spielen, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, Bruch und Brücke (zum Hörer), Befragung (des Materials) und Bewegung (des historischen Prozesses), Reflexion und Emotion, Gehalt und Gestalt - solche Kategorien verweisen ins Zentrum einer ästhetischen Haltung, die auf den Zusammenhang von Kunst und Denken insistiert: Denken als Voraussetzung ,kritischen Komponierens', Denken als Movens ästhetischer Wahrnehmung, Denken als Mit- und Weiterdenken. Ruzickas Musik ist spätestens mit SATYAGRAHA zu ihrem singbaren Rest durchgestoßen, der Gesang, so könnte man sagen, hat in diesem OEuvre überwintert. Darüber wäre ebenso nachzudenken wie über jene Viertonfolge d' g' a' c", aus welcher der ,Canto' der CELAN-Kantate seine melodische Kraft bezieht und die auf das ,Manifest der gesamten neuen Musik' (Adorno) verweist, auf den Einsatz nämlich der Singstimme im Finalsatz von Arnold Schönbergs Zweitem Streichquartett op. 10 (1907): ,Ich fühle luft von anderen planeten'. Und so ist Peter Ruzickas ,Canto' als Nach-klang und Vor-schein in eins.
Nach solcher Musik aus Musik, die sich einem eher unbewussten Reflex auf Schönbergs op. 10 verdankt, wird der Strang einer Musik über Musik, der seit den frühen siebziger Jahren das Schaffen Ruzickas durchzieht, in zwei einsätzigen Werken für Orchester fortgeführt. METAMORPHOSEN ÜBER EIN KLANGFELD VON JOSEPH HAYDN (1990) wurde angeregt durch den wie statisch kreisenden, obsessiven Bläsersatz, den Haydn der oratorischen Bearbeitung seiner ,Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze' zwischen die Textworte „Mein Gott, warum hast du mich verlassen" und „Mich dürstet" eingefügt hat - ein Stück Musik, „das man ebenso bei Schubert oder Mahler erwarten dürfte". (P.R.) ,Tallis'. Einstrahlungen für Orchester von 1993 bezieht sich auf die Motette ,Spem in alium' des englischen Renaissance-Komponisten Thomas Tallis, die, bis zur Vierzigstimmigkeit gesteigert, das Bild des Psalmisten vom zürnenden und zugleich gnädigen Gott beschwört. ,... DAS GESEGNETE, DAS VERFLUCHTE. Vier Orchesterskizzen entstand 1991. Die Titelworte sind einem Brief Allan Petterssons (1911-1980) entnommen, der, als Komponist ein Unzeitgemäßer par excellence, „an etwas Zentralem rührt: dem Verhältnis von musikalischem Ausdruck und menschlicher Existenz". (P.R.) Ruzickas Musik setzt nicht bei einem konkreten Werk an, sie entsteht sozusagen in der Werkstatt Petterssons, in der mit einzelnen kompositorischen Zellen gearbeitet wird. Dieses Vorbild assimiliert sich allmählich Ruzickas Tonsprache, bis in der vierten Orchesterskizze schließlich aus dem Komponieren über Pettersson ein „Komponieren in Pettersson" (Wulf Konold) geworden ist.
Neben groß besetzten Werken läuft - und durchaus nicht auf einem Nebengleis - das Streichquartettschaffen einher, das seit ,... FRAGMENT...' Fünf Epigramme für Streichquartett (1970) mit dem dichterischen Werk Celans und mit Weberns Axiom einer dichtesten musiksprachlichen Aussage verbunden ist. Als Requiem für Paul Celan entstanden, ist dem Zweiten Streichquartett der Gedanke an den Tod eingeschrieben. Dieser Gedanke lässt sich auch als Skopus der folgenden Kompositionen für bzw. mit Streichquartett ausmachen: so im eschatologischen Blick des Dritten Streichquartetts ,... ÜBER EIN VERSCHWINDEN, das im Titel Boulez' Nachruf auf Adorno zitiert und das sein Telos im Schlusssatz von Mahlers IX. Symphonie als einer Allegorie des Todes findet; TOMBEAU für Flöte (Altflöte, Bassflöte) und Streichquartett von 2000, ein „spätes Echo des Flötenkonzerts" (P.R.), erweist sich als Stele für den Solisten der Uraufführung von EMANAZIONE. Variationen für Flöte und vier Orchestergruppen (1976), Karl-Bernhard Sebon (1935-1994); „Lichtzwang" von Paul Celan ist eine von neun Textquellen in ... SICH VERLIEREND. Musik für Streichquartett und Sprecher (1996), ein Werk, das unter strukturellen Gesichtspunkten ein ebenso wichtiges Bindeglied zum Musiktheaterwerk CELAN darstellt wie ... INSELN, RANDLOS ...'von 1994/95. Hier, wie in fast allen Werken seit Mitte der neunziger Jahre wird die Tendenz deutlich, die das bisherige Schaffen bestimmende Fragmentästhetik zugunsten einer kompositorischen Großbogigkeit zu verlassen und damit nicht zuletzt auch dem Anspruch eines abendfüllenden Bühnenwerkes zu genügen.
Die kompositorische Idee schließt - wie das Bild der randlosen Inseln suggeriert - Verdichtung und Entfaltung, den materialen Kern und die Weite des musikalischen Raumes ein, den Solovioline, groß besetztes Orchester und ein Kammerchor erfüllen. Mit einem Gedicht aus dem Zyklus „Eingedunkelt" ist Paul Celan auch in diesem Werk gegenwärtig: „Nach dem Lichtverzicht: / der Botengang, / hellende Tag, // Die blühselige Botschaft, / schriller und schriller, / findet zum blutigen Ohr." NACHTSTÜCK(- aufgegebenes Werk)' für Orchester (1997) rekurriert noch einmal auf den Fragmentgedanken wie ein Adieu, bevor CELAN. Musiktheater in sieben Entwürfen (Text: Peter Mussbach) bis zum Ende der neunziger Jahre das kompositorische Schaffen bestimmt.
... VORGEFÜHLE... für Orchester (1998) und NACHKLANG. Spiegel für Orchester' (1999) flankieren die Entstehung der Oper, Materialreservoir das erste, Vor-Bild für die Siebengestalt des Bühnenwerkes und Medium der Rückschau wie des Rückhörens das zweite Werk, bei dessen Entstehung Peter Ruzicka „die Erfahrung eines Nachklingens, das wie ein beständiger Klangschatten sich ausnahm", machte.
RECHERCHE(- IM INNERSTEN) für Chor und Orchester (1998) weist nicht nur auf das Bühnenwerk voraus, es ist identisch mit dem vierten Entwurf, der „ins Innerste" der Oper führt. Den Weg dorthin weist das einzige Textwort von ,Recherche', ein Wort mit einem spirituellen Bedeutungsfeld, aus dem das jüdische Bewusstsein visionäre Kraft bezieht: „Jerusalem". Im Medium dieses Wortes gibt die Musik den Blick ins Innerste frei: auf die Schrunden tiefster Verletzung und Verzweiflung. Wie Celan in seiner Lyrik, so umkreist die Musik von ,RECHERCHE' traumatische Seelentiefen, erforscht sie, leuchtet sie mit der letzten Anrufung des geistigen Ortes wie in einem großen Aufschrei grell aus - um sie dann doch vor dem inneren Auge des Hörers wie vor den Augen eines Geblendeten wieder einzudunkeln.
CELAN (1998/1999) ist „keine szenische Biographie" (P.R.) mit einem Protagonisten im Zentrum, sondern eine virtuelle Geschichte in sieben Entwürfen, die ihr Sujet ständig zwischen Annäherung und Entfernung changierend umkreist. Die Hoffnung, dass solche (geplante) Bewegung für den Hörer und Zuschauer zur (nicht planbaren) Be-Wegung werden könne, ohne dass eine Richtung vorgegeben werden könnte, ist wohl das eigentliche Wasserzeichen dieser Partitur. Der Weg von ,... FRAGMENT...' zu ,CELAN' ist der Weg vom Requiem zum entschiedenen „Non requiescat!"
Ruzickas Kompositionen für ein Soloinstrument und Orchester sagen auf je besondere Weise „Ich". Die jüngste von ihnen, ERINNERUNG. Spuren für Klarinette und Orchester (2000) setzt also eine Werkreihe fort, ohne direkt anknüpfen zu können. Ruzickas Bühnenwerk ist indessen von einer prismatischen Kraft, die frühere Kompositionen in neuem Licht erscheinen und die ,CELAN' als Folie und Ferment der späteren erkennbar werden lassen dürfte. Spuren, so viel lässt sich heute nur sagen, führen vom Klarinettenkonzert auch zur Oper. Dem Blick ins Innerste korrespondiert hier das zum Programm erhobene „Spiel mit der Erinnerung auf verschiedenen Ebenen: was ich sehe, wie ich denke, wie ich damals war, wie es jetzt ist, was ich glaube, was ich gemacht habe. Ich versuche, die ,Erinnerung der Erinnerung' zu artikulieren. Immer mehr Spuren werden erfahrbar." (P.R.) Die vertikale Wucht von RECHERCHE (- IM INNERSTEN) scheint hier ein Komplement zu finden, das - im spielerischen Umgang mit der Imagination, der auch ein „imprévu", eine „nicht vorgedachte Überraschung" (P.R.) einschließt - einen Horizont eröffnet. Wie solch ein Horizont „geerdet" werden kann, vermittelt Ruzickas Notat von jener „Tendenz des Übermalens von gestaltlichem Basismaterial", das er im Klarinettenkonzert „ins Extreme zu treiben" versucht hat. „Es sind eigentlich nur vier Klangfelder, um die alles kreist. Dann gibt es Erinnerung und Erinnerung der Erinnerung der Erinnerung." (P.R.)
So führen die Spuren dieser Musik ins Innerste, und doch weisen sie dem Hörer - wie in allen Partituren Ruzickas - den Weg ins Offene: Nach-klang und Vor-schein in eins.
2001-2012
Dem Wort, das hier so insistierend beschworen wird, kommt fortan eine zentrale Bedeutung in Ruzickas Schaffen zu. Es gibt gleichsam als Topos dem MEMORIAL für Orchester für Orchester (2001) - dem klingenden Nachruf auf den Dirigenten Giuseppe Sinopoli - einen tiefen Sinn. Chiffren des Ersterbens und Verlöschens lassen dieses Adieu als eine Musik der letzten Gesten erkennen; mit den Tonbuchstaben G-Es-E-E-Es indessen bleibt dem Werk die Erinnerung an den Freund für immer eingeschrieben.
Sieben Jahre später dann verweist Erinnerung als Titelwort des sechsten Streichquartetts (ERINNERUNG UND VERGESSEN, 2008) auf die imaginäre Mitte Hölderlinschen Dichtens, das in den späten Hymnenfragmenten seinen poetischen Fokus gefunden hat: „Mnemosyne". Indem die CELAN Symphonie für Bariton, Mezzosopran und großes Orchester (2002) die Oper noch einmal in zehn Stationen vergegenwärtigt, steht auch sie im Zeichen der Mnemosyne, und so wird Erinnerung auch zur eigentlichen Copula, wenn sich Peter Ruzicka mit diesem symphonischen Rückblick von Celan löst und zugleich sein Schaffen auf Hölderlin als einen anderen Pol hin ausrichtet. Die Entschiedenheit aber, mit der diese Neujustierung ins Werk gesetzt wird, lässt es legitim erscheinen, die Werkgruppe nach der Celan Symphonie insgesamt unter die Sigle „Die Geburt der Musik aus dem Geiste Hölderlins" zu fassen.
Als sollte AFFLUENCE für großes Orchester (2003) dieses kompositorische Neuland vermessen, hat sich Ruzicka von der Vorstellung inspirieren lassen, „es werde ein musikalischer Raum betreten, der durch ein Tor einen neuen Raum eröffnet, von wo aus man weitere Räume erschließt. Die einzelnen Räume haben ein sehr unter-schiedlich geprägtes Innenleben. In ihnen werden immer neue Sprachen gesprochen, wie ein Gang durch verschiedene Schichten des musikalischen Bewusstseins und der Erinnerung. Dabei erfolgt das Fortschreiten in neue Räume in Grenzmomenten der Verdichtung, des Überfließens (Affluence)".(P.R.) Als ein Gang ins Offene (verschiedener Sprach- und Zeitebenen) findet Affluence sein spätes Gegenstück in MAELSTROM für großes Orchester (2007), das - wie ein „Strudel von Ereigniszuständen" (P.R.) - den Hörer gleichsam in die Tiefe zieht. Das Stück ist wie eine Metapher dem 2. Akt der Oper Hölderlin eingeschrieben, wo es das Bild von der „Zeitfalle" und die Vorstellung eines sich rückwärts drehenden Rades sinnfällig unterstreicht.
Flankiert von VORECHO. Acht Ansätze für großes Orchester (2005) und NACHSCHRIFT. Drei Stücke für Violoncello und Klavier (2008) formieren sich fünf weitere Kompositionen mit explizitem Verweis auf den Dichter beziehungsweise auf das zweite Musiktheaterwerk Hölderlin. Als unmittelbare Reflexe auf das dichterische Schaffen, aber auch als Vorstudien oder Skizzen, als erste Entwürfe zentraler Stationen der Oper oder als deren Fundus für materiale Bausteine sind sie allesamt auf die „Expedition"" ausgerichtet, wie das Bühnenwerk im Untertitel benannt ist. Dass Spuren, zum Teil aber auch große Segmente dieser Arbeiten in die Hölderlin-Partitur eingegangen sind, lässt die seit etwa fünf Jahren entstandenen Opera als ein work in progress ganz eigenen Zuschnitts begreifen, nicht anders als die im Umfeld von CELAN entstandenen, auf das erste Bühnenwerk hin entworfenen Kompositionen.
So erprobt das Orchesterwerk VORECHO, bestehend aus acht Fragmenten unterschiedlicher Länge, „musikalische Grundklänge und Gesten, die spätere Szenen und Entwicklungen tragen werden" (P.R.) In „absoluter Stille" beginnend, wachsen dieser Musik mehr und mehr prägnantere Gestalten zu, von denen sich ein virtueller Gesang, pulsierende Paukenostinati, flirrende Flageolettklänge und brüske Attacken der Bläser ganz unmittelbar einprägen. Die von Ruzicka in vielen Werken realisierte Vorstellung einer sich selbst beobachtenden Klangsprache, „einer Musik, die im Moment des Erklingens auch den Blick nach außen wahrt", teilt sich im ersten und umfangreichsten Ansatz besonders hörsam mit. Mit dem mannigfaltigen Widerhall von „musikalischen Gestalten, die in 'übermalter´ Form wiederkehren und doch ihre Identität bewahren"(P.R.), steht Vorecho paradigmatisch für ein „erinnerndes Komponieren", das Ruzickas Schaffen seit je eine besondere Kohärenz sichert. Lange nämlich vor der schöpferischen Nähe zu Hölderlin war er Widerhall solcher Erinnerungsfelder mit ihren zurückblickenden, reflektierenden, befragenden Momenten bereits essentieller Bestandteil vieler seiner Partituren.
In NACHSCHRIFT. Drei Stücke für Violoncello und Klavier (2008) ist solches Erinnern - und zwar mit Spuren in andere Kompositionen hinein - selbst thematisch geworden. „Als eine Art Satellit zu meiner Oper" (P.R.) umkreisen die Stücke den Zyklus „...UND MÖCHTET IHR AN MICH DIE HÄNDE LEGEN..." Fünf Fragmente von Hölderlin für Bariton und Klavier (2006/2007), deren Duktus sie sich anverwandeln, sie greifen die VI. Skizze aus PARERGON als Klavierpart (des zweiten Stückes) auf, und sie adaptieren das erste der Hölderlin-Fragmente (Die Erscheinung der Madonna) als reines Instrumentalstück. Dass dieses Fragment in der Orchesterfassung auch in der Oper erklingt, macht es zum exemplarischen Fall der Vernetzung, eines wahren Flechtwerks von Beziehungen zwischen den einzelnen Kompositionen rund im Hölderlin.
Parallel zur Arbeit an der Oper entstanden, exponiert der schon erwähnte siebenteilige, höchst virtuose Zyklus PARERGON. Sieben Skizzen zu Hölderlin für Klavier (2007) musikalische Verläufe, die sich aus dem Skizzenmaterial wie auch aus bereits ausformulierten Orchesterabschnitten der Oper herleiten. Es war Ruzickas Intention, „sehr komplexe Gestalten auf die kürzest mögliche Form des Ausdrucks zu beschränken." Das Ergebnis sind „Stücke, die in der Abfolge virtuoser Szenen und kontemplativer 'Zuständlichkeit´ wie 'Impromptus´ wirken mögen. Sie gehen neben der Oper ihren durchaus eigenen Weg, als ein komponiertes 'Parergon´". (P.R.)
Als Auftragswerk für die Festival Strings Lucerne entstanden, repräsentiert ...INS OFFENE... Musik für 22 Streicher (2005/2006) den seltenen Fall einer ganz unmittelbar packenden Verbindung von höchster Virtuosität und unerhörter expressiver Kraft. Diese Melange bewährt sich gleich zu Beginn, wenn nach einem einleitenden Pausentakt ein imaginärer Raum voller Echos und Stille mit jähen Plötzlichkeiten aufgerissen wird. Vortragsbezeichnungen wie „Eccitato" und „Tonlos auf dem Corpus streichen" öffnen diesen Raum nach innen, geben ihm eine fiebrig-nervöse, physische Qualität. Jeder der 22 Streicher agiert solistisch, hat also seine eigene Stimme. Darin vor allem und in den vielen, in ihren „polyphonen" Zeitverläufen hörend nicht mehr nachvollziehbaren kanonischen Bewegungen, die sich durch die Komposition fädeln, ist die innere Unruhe begründet, die sich beim Hören mitteilt. Sie findet ihr tönendes Gegenbild, wenn das Stück gegen Ende hin („Lontano") sehr still wird, „gleichsam die musikalischen Gestalten Schatten werfen lässt" (P.R.) und in einem leisen Canto ausklingt. Der Titel des Werkes - Hölderlins Elegie Der Gang aufs Land entlehnt - bezieht aus solchem Schluss seine besondere Plausibilität.Teile aus diesem Streicherstück kommen in verwandelter, übermalter Form in der Oper wieder, wobei die Palette durch den großen Orchesterapparat erweitert wird. Seine autonome Klanglandschaft lässt das Werk, das für den Konzertsaal komponiert ist, jedoch auch ohne nähere Kenntnis der Oper verständlich sein.
Dem Streichquartett Nr. 5 STURZ (2004) liegt ein ähnlicher Formplan wie der Musik für 22 Streicher zugrunde, und wie ...INS OFFENE..., so reflektiert auch dieses Werk einen bestimmten, vom Komponisten im wirklichen Leben erfahrenen Zustand. Es ist die allmähliche Veränderung des Zeitbewusstseins während eines Langstreckenfluges von Amerika nach Deutschland. Anders aber als das großbesetzte Schwesterwerk, hebt das Streichquartett mit äußerster dynamischer Verhaltenheit an (pppp con sordino / sul ponticello) und entfaltet behutsam einen von „sich wiederholenden, energiespenden Modulen" perforierten Zeitschleier, den ein Pizzicato des Violoncellos auf ais zunächst in unregelmäßigen Abständen einfärbt, später dann im Wechsel mit den Tönen gis und a zeitlich strukturiert. Dem raschen Wechsel der Spielarten auf engstem Raum (pizz., arco sul pont., legno battuto) folgen nach einer bestürzenden Abwärtsdrift aller Instrumente irisierende Flageolettklänge, ein Orgelpunkt auf d im Violoncello und der aus diesem Liegeton erwachsende Schlusspart mit der Spielanweisung „auf dem Corpus gestrichen, wie 'atmend´". Mit einem letzten geisterhaften Sturzgestus und einem abschließenden Pausentakt von 13 Sekunden (!) Dauer entlässt das Werk den Hörer gleichsam in eine Musik unter Tag.
In den Fünf Fragmenten von Hölderlin für Bariton und Klavier „...UND MÖCHTET IHR DIE HÄNDE AN MICH LEGEN..."(2006/2007) hat Peter Ruzicka die existentielle Doppelbödigkeit der Texte (aus Hyperion, Empedokles und einem der Foliohefte), mit denen Hölderlin in den Rissen und Trümmern einer aufbegrochenen Welt herumtastete, sensibel ausgehorcht und eingetönt. Die Erscheinung der Madonna, das erste und längste der Fragmente nach Hölderlin, gewinnt sein gestisches Vokabular aus einem langen Klaviervorspiel. In das sich nach 13 Takten die Singstimme fespr. einblendet. Permanenter Taktwechsel und viele triolische, quintolische und septolische Bildungen evozieren - wie so oft bei Ruzicka - eine geichsam schwebende Wahnehmung der rhythmisch-metrischen Disposition. In Empedokles, dem zweiten Fragment, findet sich das längste Nachspiel des Zyklus. Es führt den Barcarole-Duktus, der den Gesang grundierte, zunächst fort, um ihn schließlich mit den letzten fünf Takten in brüskem ff in seiner Uneigentlichkeit zu attackieren. „In langsamer, ausdrucksvoller Diktion, ohne falsches Pathos" möge der Sänger das Textfragment Was ist Gott? Rezitieren. Es gilt das gesprochene Wort! Dem korrespondiert, dass der Klavierpart mit großer dynamischer Zurückhaltung gesetzt ist und selbst dort, wo der Sänger vom „Donner" spricht, im ppp verbleibt. Fragender kann man der letzten aller Fragen, die mit diesem Fragment gestellt wird, ästhetisch nicht begegnen. Das vierte, kürzeste Fragment Mein Bild ist ohne Takt notiert und verdankt seine Wirkung einer letztmöglichen Zurücknahme: Der chromatische Cluster Es-As, nur ein einziges Mal angeschlagen und dann nachhallend, wird zum Klangraum, in dem Stimme und Instrument miteinander verschmelzen. Dem fünften Fragment Das Gefühl der Einsamkeit sind die Titelworte des Zyklus entnommen: „[...] und möchtet ihr an mich die Hände legen?" Vorschlagsfiguren und Tremoli prägen den Klavierpart, dem sich die Singstimme mehr widersetzt als anbequemt. Einzig im drittletzten, von der großen Septime dominierten Takt („O Sieh!") gibt es eine kurzfristige Übereinkunft. So scheint das Gefühl der Einsamkeit der Musik selbst eingeschrieben zu sein.
Die ACHT GESÄNGE NACH FRAGMENTEN VON NIETZSCHE (1992/2007) sind einerseits mit dem Assoziationsreichtum und der lyrischen Faszination ihrer Texte, andererseits mit der so sensibel ausgehorchten kompositorischen Anverwandlung der Fragmente zugleich Kontrapunkt und Komplement des HÖLDERLIN-Zyklus. Die charakteristische Klavierfigur des ersten Gesanges, die „wie Wind auf müd gespannten Fäden" die Textur durchwirkt; die auskomponierte verzweifelte Heftigkeit des Selbsthenkers; die wie Luftwurzeln ungeerdet aufwärtsstrebenden arpeggio-Figurationen in den letzten Takten des Zyklus; schließlich und nicht zuletzt die in beiden Zyklen so eindrucks-volle Beleuchtung der zarten wie der erhabenen, der tröstenden wie der verstörenden poetischen Bilder durch die Kraft einer melodischen Erfindung von unerhörter Tiefenschärfe und Prägnanz - das alles weist diese Gesänge als Vokalkompositionen hohen Ranges aus. Beide Zyklen belegen eindrucksvoll, dass gerade das Nicht-Ausgeführte, das Bruchstück, der Entwurf in ihrer vielperspektivischen Offenheit die schöpferische Phantasie anzuregen vermögen. Nicht „vertont" im herkömmlichen Sinn, wohl aber eingetönt, mit Klang umhüllt, wird das (v)erschwiegene Wort zur Sprache gebracht.
HÖLDERLIN. EINE EXPEDITION (2007, Text: Peter Mussbach, UA am 16. November 2008 [Staatsoper Unter den Linden Berlin] unter der Leitung des Komponisten) ist Ruzickas zweites Werk für das Musiktheater. Wie in CELAN, so geht es auch in Hölderlin nicht darum, die Vita eines Dichters auf der Bühne zu entfalten. Zentral ist vielmehr die Frage, was Hölderlin uns Heutigen bedeutet, „den 'Kompass´ der Hölderlinschen Philosophie vor dem Hintergrund einer auch in der Gegenwart spielenden Geschichte von 13 Individuen aufzuzeigen." (P.R.) Unter solchem Anspruch kann Komponieren nicht darauf erpicht sein, bündige Antworten zu geben. Mehr als irgendwo sonst muss es sich aufs Fragen einrichten, muss sich als Ars quaerendi Gehör verschaffen. Peter Ruzicka hat versucht, Impulse für die Komposition aus frühen Texten Hölderlins (Empedokles-Fragmente, Hyperion) aufzunehmen, und er hat zusammen mit Peter Mussbach den Fokus des Werkes unmissverständlich formuliert: „Die ewige Sehnsucht des Menschen nach Einheit mit sich und der Natur, also mit sich und der Welt, dieses allseits bekannte Gefühl und die Tatsache, einsam zu sein auf der Welt, aber angesichts des Todes erst lebensfähig zu werden, um im nächsten Augenblick bereit zu sein, in die Ewigkeit eingehen zu können, ohne Verlust - von diesem und von nichts anderem handelt HÖLDERLIN." Damit ist ein „Tua res agitur!" ausgesprochen, das der Zuschauer als Einladung, als Herausforderung oder als offene Frage annehmen kann. Novalis hätte für den imaginären Raum, in den uns die vier Akte von Hölderlin einladen, einen Namen gehabt: "Der Seele wundersames Bergwerk..."
ERINNERUNG UND VERGESSEN. Streichquartett Nr. 6 mit Sopransolo (2008) wurde am 3. Juli 2008 vom Minguet Quartett (dem Widmungsträger) in Bad Kissingen uraufgeführt. Einer der letzten großen Gesänge Hölderlins beschwört die Mutter der neun Musen und Göttin der Erinnerung, der ein zentraler Platz in Hölderlins poetischer Reflexion zukommt: Mnemosyne. Peter Ruzicka hat für den Sopranpart seines 6. Streichquartetts Textfragmente aus der dritten Fassung von Mnemosyne ausgewählt und damit das Werk explizit im Umfeld der Oper verortet. Erinnerung und Vergessen weist aber auch weit zurück in Ruzickas musikalisches Denken, das die Zone zwischen Erinnerung und Vergessen immer wieder neu vermessen, Vergangenes reflektierend umkreist oder durch Anverwandlung vergegenwärtigt hat. So kann der Titel des Quartetts gleichermaßen für einen zentralen Aspekt von Ruzickas musikalischer Poetik wie für seine Hölderlin-Rezeption stehen. Dass sich in Erinnerung und Vergessen auch Spuren eines vor über vierzig Jahren begonnenen Streichquartetts finden, beglaubigt den Titel des Werkes ebenso wie das Vorwort zur Komposition:„In drei der sieben Teile umkreist eine Vokalstimme Textfragmente aus Hölderlins letzter Ode Mnemosyne, jener dunklen Beschwörung von Vergänglichkeit und Ewigkeit: 'Erinnerung´ nicht Überwindung, sondern 'Bewusstsein der Endlichkeit´." Solches Bewusstsein artikuliert sich in einer Partitur, die „Wie ein Ausbruch" beginnt und mit einer Vokalise (in Lautschrift notiert und „wie erinnernd, „schwebend" zu singen) verlischt - ohne zu schließen. Das ist, wie so oft bei Ruzicka, der Stille vorbehalten: Pausentakt, Fermate. Vortragsbezeichnungen wie „misterioso", „wie erstarrt", „vergessend", „sich erinnernd" sind gleichsam die Türen, durch welche die Streicher der Rätselhaftigkeit eines Textes auf die Spur kommen sollen, eines Textes, der dann im IV., VI. und VII. Abschnitt vom Sopran in unterschiedlichen Aggregatzuständen exponiert wird: Hölderlins Sprache erscheint verborgen und offengelegt zugleich, Boulez' Postulat „centre et absence" in originärer Weise eingelöst. Dabei geht es Ruzicka nicht um eine musikalische Nachgestaltung des Textes, sondern um die Entfaltung einer hörbaren Gestalt, die prozesshaft zwischen dem Text(verständnis) und dem musikalischen Kontext steht. Wo immer ein latent mitschwingendes Melos zu vernehmen ist, vermittelt es mit seinen exaltierten Sprüngen den Eindruck tastenden Suchens, aber auch den eines ziel- und weglosen Getriebenseins „wie auf schwankendem Kahne der See" (Hölderlin, Mnemosyne). „Langsam-zögernd gesprochen" wird der dritte Teil des Fragments rezitiert, bevor der Sopran „wie erinnernd" noch einmal einen elegisch-kantablen Bogen erblühen lässt, textlos und dennoch wie aus dem Herzen der Sprache tönend. Theodor W. Adorno hat der sanften Gewalt solcher Stellen in seinem Fragment über Musik und Sprache einen Gedanken gewidmet: „Sprachähnlich zeigt Musik am Ende sich nochmals darin, dass sie als scheiternde gleich der meinenden Sprache auf die Irrfahrt der unendlichen Vermittlung geschickt wird, um das Unmögliche heimzubringen."
Der Titel des 2009 entstandenen Werkes "...ZURÜCKNEHMEN..." Erinnerung für großes Orchester verweist auf das Skandalon in Thomas Manns Roman Doktor Faustus: Adrian Leverkühn, der fiktive Tonsetzer, der sich in einem Teufelspakt seine Schaffenskraft mit dem Liebesverbot und seiner Todesfrist (der Zeit) erkauft hat, erleidet mit dem Tod seines Neffen Nepomuk die ganze Kälte dieser Welt, auf die er mit einem Bannfluch zurückschlägt. 'Ich habe gefunden', sagte er, 'es soll nicht sein.' 'Was, Adrian, soll nicht sein?' 'Das Gute und Edle', antwortete er mir, 'was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.' 'Ich verstehe dich, Lieber, nicht ganz. Was willst du zurücknehmen?' 'Die Neunte Symphonie', erwiderte er. Und dann kam nichts mehr, wie ich auch wartete. Dieser Bannfluch richtet sich indessen nicht gegen Beethovens Musik. Er ist vielmehr als Antwort auf die Schändung zu verstehen, die dem von Schiller/Beethoven beschworenen humanistischen Ideal um die Mitte des 20. Jahrhunderts angetan wurde. Im Wort von der Zurücknahme mag Thomas Manns eigener Zweifel daran mitklingen, ob der in der Neunten ausgerufene "liebe Vater" auch über Judensternen wohnt. Unter solchen Vorzeichen plant Leverkühn sein opus ultimum, Doktor Fausti Weheklag. In diesem Werk soll der durch rationale Prozeduren oft verdrängte Ausdruck des Subjekts, "der expressive Seelenlaut", enggeführt mit kompositorischem Kalkül, für die Musik zurückgewonnen werden. Dass damit das vermeintliche "Gegenwerk" zur Neunten Symphonie in Wahrheit deren Nobilitierung, ihre Zurücknahme zugleich eine Zurückgewinnung ihrer Botschaft, Einspruch also zugleich Zuspruch bedeuten würde, hält den auf Monteverdi, Beethoven und Mahler gleichermaßen verweisenden Entwurf der Weheklag in einem faszinierenden Schwebezustand. Nicht zuletzt solche Offenheit des Sujets dürfte Peter Ruzicka herausgefordert und zu seinem neuen Orchesterwerk inspiriert haben. Ausgelöst durch den "Schreckensakkord" vom Beginn des 4. Satzes der Neunten Symphonie, "beschabt" das großbesetzte Orchester gewissermaßen einen dreifach beschriebenen Palimpsest von fast 400 Takten. Das musikalische Material speist sich zunächst auch aus früheren Kompositionen Ruzickas, die wie Erinnerungen an Vorgedachtes, auch Verworfenes der neuen Partitur eingeschrieben sind: In diese wie aus tektonischen Verschiebungen und kosmischen Stürzen geborene Klanglandschaft fräst sich immer wieder der hochgespannte Eröffnungsakkord ein, der die Gegenwart Beethovens ebenso beschwört wie die Signale der Kleinen Trommel ("Alla Marcia"!) oder die auf den Ton d (die Tonart der Neunten) fokussierten Repetitionsfelder der Streicher und Bläser. Doktor Fausti Weheklag schließlich ist gegenwärtig in der durchweg vernehmbaren Melange aus "expressivem Seelenlaut" und subtilster Ausformung der kompositorischen Details, in dem melancholischen, an Dürers Melencolia I über Leverkühns Schreibtisch erinnernden Bläserflor. Dieser dreifach gebrochene Blick auf Beethovens Neunte Symphonie, auf Doktor Faustus und auf das eigene Schaffen wird nach vielfachen Verdichtungen des Orchestersatzes durch einen stillen Epilog verhängt: beredtes Schweigen, ein Ort der Sammlung, des Rückhörens und der Vorahnung, vor allem aber auch der Umkehr. Die aggressive Intonation im Mittelteil wird zunehmend von milderer Klanglichkeit abgelöst, in der ein Flötensolo als Subjekt vernehmbar wird. Es verweist auf eine Erinnerung an jene unvergleichlich modulierende Akkordfolge aus dem langsamen Satz der Neunten Symphonie. "Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen." Dieser talmudische Satz Kafkas ist nicht eindrucksvoller zu widerlegen als durch solche Zurücknahme der Zurücknahme. Im letzten Takt von "...ZURÜCKNEHMEN..." ist der Quintklang d"-a" der Celesta zu vernehmen. Adrian Leverkühn hatte das Instrument als ein besonders exponiertes für Doktor Fausti Weheklag vorgesehen, und für Beethoven war die leere Quinte d-a das Eingangstor zur Neunten Symphonie. Deren Zurücknahme wird durch eben jene Quint-Essenz außer Kraft gesetzt, durch ein hauchzartes Déjà-vu der Celesta.
In dem kammermusikalisch besetzten Orchesterwerk TRANS (2009) wird die Celesta – seit Mahler Tonsymbol des Jenseitigen – zwar ausgespart, als Klangtopos für das Geheimnisvolle, Irreale, Rätselhafte jedoch durch Zimbeln, die mit dem Kontrabassbogen gestrichen werden, und hoch gestrichene Flageoletts der Geigen wirkungsvoll ersetzt. Damit ist der Partitur eine tönende Chiffre der Transzendenz eingeschrieben, auf die der Titel des etwa 25-minütigen Werkes verweist. Mit ihm spielt Ruzicka auf die absolute Grenzsituation an, von der Menschen nach einer Nahtoderfahrung berichten. TRANS ist eine Vorstudie zu einem geplanten Musiktheater-Projekt, "das von dieser existentiellen Nahtstelle, von dieser Grenzüberschreitung handeln wird." (P.R.) Wie aus dem Nichts erwachsend, findet die Musik über spärliche, einsame Einzeltöne allmählich zu sich selbst, um in sieben Abteilungen von unterschiedlicher Dichte und Intensität, verbunden durch fragile Klangbrücken, über sich hinauszuweisen. Dabei folgt sie einer inneren Dramaturgie, die bereits in den Überschriften der sieben Klangreliefs erkennbar wird: dal niente – Ergebung – Kampf – Erstarrung – Im Innersten – Schattenhaft, Flucht – Erinnerung. Dem ersten Hören prägen sich die gleißenden Höhen der gestrichenen Zimbeln, die Klopfzeichen der Streicher und des Klaviers (mit abgedämpften Saiten), die Imprévus des entfesselten Tutti, ("Wie ein Ausbruch!" "Schrei!") und die schattenhaften Figurationen der Harfe, ("erinnernd") ebenso ein wie die "cantando" gehaltenen Lineamente des Klaviers und die gegenläufigen Glissandi im Streicherfeld. Die äußersten Ränder (Anfang: "dal niente" und Ende: "perdendosi") dieser von hoher Ereignisdichte geprägten Klanglandschaft werden pppp vom kleinen Becken markiert. Die Spielanweisung "mit sprechendem Ausdruck" (Klavier) im siebten Abschnitt ("Erinnerung") verweist auf das letzte der Sechs kleinen Klavierstücke Op.19, das Arnold Schönberg unter dem Eindruck des Todes von Gustav Mahler geschrieben hat. Peter Ruzicka hat dieses aphoristisch knappe Gebilde, frühestes Zeugnis einer Entmaterialisierung der Klangsprache, seiner Partitur auf subtilste Weise inkorporiert. Damit aber wird TRANS, eines der vielen Werke, in denen sich Ruzicka mit dem Tod befasst, zum Einspruch gegen die Vergänglichkeit der Kunst und des Schönen, zu einer Nänie, welche die alles bewahrende Kraft der Erinnerung beschwört.
Auch das Konzert für Violoncello und Kammerorchester ...ÜBER DIE GRENZE (2009) versteht der Komponist als "eine Art Vor-Echo einer dritten Oper, die sich um Jenseitiges bewegen wird." (P.R.) Wie im Schwesterwerk TRANS geht es also auch hier um Nahtoderfahrungen und das Rückspulen eines Lebensfilmes, um den Grenzbereich zwischen Leben und Tod, um eine Ästhetik der Letzten Dinge. Solche Grenzerkundungen imaginiert Ruzicka "durch eine musikalische Zweisprachigkeit, eine irreale und eine gegenwärtige." Das kommt einem Ausbruch aus seiner musikalischen Grammatik gleich, der den Komponisten in einen Bereich führt, der ihm selbst „neu und vielleicht auch nicht immer gesichert ist." Dass und wie diese beiden Sprachen nicht nur zwei unterschiedliche Sphären repräsentieren, sondern Zwiesprache miteinander führen und dabei die Grenze zwischen ihnen – frei nach Immanuel Kant – nicht als Schranke, sondern als einen Ort der Begegnung, der Verwandlung und Anverwandlung erfahrbar machen, erschließt sich dem Hören ganz unmittelbar. Es berührt zudem den eigentlichen Skopus der Komposition: „Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben."(Hölderlin) Assoziieren die hohen Flageoletts der Streicher am Beginn Mahlers Erste Sinfonie, so die Einblendung des letzten der Sechs kleinen Klavierstücke Op. 19 von Arnold Schönberg gegen Ende des Werkes wie schon in TRANS Mahlers Tod, bevor die Musik nach einem letzten Aufbäumen in extremer Lautstärke die "Grenze" wie mit leisen Atemzügen endgültig überschreitet. Die Musik schließt nicht wirklich, sie hört unschlüssig auf, sie verschwindet und gibt den Blick frei auf das ganz Andere. Vom eröffnenden sff-Einsatz des Soloinstruments (e'), der von einem Streicherflor grundiert wird, bis zu diesem "Schweigen in ein neues Land" (Nelly Sachs) durchlebt der Hörer ein hochemotionales, von starken Kontrasten geprägtes Konzert, in dem sich der Solist gegen die sich aufbäumende Klangwelt des Orchesters zu behaupten hat. Da gibt es Klangblöcke von archaischer Schreckhaftigkeit, aber auch „cantando" und „espressivo dolcissimo" gestimmte Ruheinseln; ein bis zu beklemmender Leere ausgedünntes, von Harfe und Pauken in fahles Licht gesetztes Klanggeschehen, aber auch überbordende virtuose Aktivitäten des ganzen Orchesters. Dabei bewahrt der akribische und behutsame Umgang mit den kompositorischen Details die Partitur davor, jemals in die Nähe eines tönenden al fresco zu geraten: Ruzicka komponiert mit feinem Pinsel, und so mag der Hörer in allen Aggregatzuständen dieser Musik ein subtil ausgeformtes Oszillieren zwischen Leben und Tod wahrnehmen. ...ÜBER DIE GRENZE wurde von Daniel Müller-Schott und der Deutschen Kammerphilharmonie unter der Leitung von Peter Ruzicka beim Bonner Beethovenfest 2012 uraufgeführt.
EINSCHREIBUNG. Sechs Stücke für großes Orchester entstand im Sommer 2010 im Auftrag des NDR für das Mahler-Jahr. Für Ruzicka war das ein Anlass, seinen Blick auf Mahlers Schaffen wie schon in vielen früheren Werken zu artikulieren. "Es ist ein ‚zweiter Blick' auf musikalische Gestalten, die mich in der Erfahrung Mahlerscher Musik geprägt haben. Es sind momentweise Näherungen, die sich in meine eigene Musik ‚eingeschrieben' haben." Das großbesetzte Werk besteht aus sechs Stücken, die durch auskomponierte Stille an ihren Enden mehr verbunden als getrennt werden. Wer nämlich die Einladung des Komponisten zum rückblickenden und zugleich vorausahnenden Hören an jenen Zäsuren annimmt, wird das Werk als eine einzige Klanggestalt wahrnehmen. Vom hingetuschten Beginn des ersten Stücks (Zimbeln, Pauken, Celesta, Harfe), der auch die sieben Szenen von AULODIE einleiten wird, bis zu der abschiedlich gestimmten Fanfare der Ferntrompeten am Schluss des sechsten Segments wird der Hörer durch eine vielgestaltige Klanglandschaft geführt, die sich einer vom Titel des Werkes inspirierten inneren Dramaturgie verdankt. So scheint dem ersten Stück (3'02'') eine Séance Mahlers mit der Natur eingeschrieben zu sein, wenn drei Zimbeln mit dem Kontrabassbogen gestrichen werden oder die Mahlersche Quarte f-b als die eigentliche Quintessenz des Satzes erkennbar wird. Sodann Holzbläserskalen, gleißende Helle in den hohen Streichern, ein einprägsames Unisono von Klarinetten und Vibraphon, das von einem katastrophischen sffff des vollen Orchesters absorbiert wird. "Mahlers Musik strahlt impulshaft in die Klangrede der Stücke ein. Durchweg sind es jene unvergleichlichen Momente des Durchbruchs bei Mahler, die sich tief in mein musikalisches Bewusstsein eingebrannt haben. Zu orten sind sie als sekundenkurze Spuren aus der sechsten, siebten, neunten und zehnten Symphonie. Diese Gestalten zerfallen alsbald wieder, aber sie wirken untergründig in meiner Musik fort." (P.R.) Das gilt im zweiten Stück (2'25'') vor allem für die hymnischen Einschübe der Streicher, für einen sich wie eine "Musik unter Tag" formierenden Bläser-Kondukt, und es gilt für die Nähe zu Mahlers Revelge in der aggressiven Steigerung in der kleinen Trommel. Das kürzeste dritte Stück (1'16'') gewinnt sein besonderes Profil durch das Widerspiel einer gleichsam in Nanopartikelchen zersplitterten Klangfolie (Glockenspiel, Marimba, Xylophon, Vibraphon), unter der das Allegro energico, ma non troppo der Sechsten von Mahler, von Pauken und Kleiner Trommel verschreckt, im Keim zu ersticken droht. Das Tamtam – bei Mahler ein Todessymbol – eröffnet das vierte Stück (5'03''), in dem die symphonische Welt Mahlers – hier in mannigfachen Allusionen wie in einem großen "Als ob" gegenwärtig – mit einer im Kontext von EINSCHREIBUNG geradezu exterritorial zu nennenden Welt konfrontiert wird. Ein Rauschgenerator (Zuspielband, als Raumklang vorproduziert) bewirkt ein intensives farbiges Rauschen, das mit dem Reibegeräusch einer Bürste auf den Fellinstrumenten und Tamtam ("Wie ein Windhauch!") konkurriert. Vor allem den Spielanweisungen für die Streicher ist abzulesen, dass Ruzicka die Vorstellung einer virtuellen (Klang)Welt vorschwebte: Pastoso, ma indistinto; Con morbidezza; Virtuale; Suono irreale. Der Dirigent schlägt die letzten 6 Takte nicht mehr aus, während die Instrumentalisten (außer den Streichern) bewegungslos verharren. Mit äußerster Sensibilität besiegeln Große Trommel und Tamtam den Vorgang einer Entkörperlichung von Klang, der mit dem schreckhaften sff-Auftakt des fünften Stücks (1'27'') aus seiner morbidezza erlöst und wieder geerdet wird. Aus diesem starken Kontrast schält sich unter vehementen Turbulenzen das dichteste Mahler-Feld des Werkes heraus. Die Symphonien VI, VII, IX und X haben Anteil an ihm. So viel Mahler war nie – verträumt, verhuscht, aber auch gequält, wie unter Schmerzen geboren und Ruzickas Musik mehr eingebrannt als eingeschrieben. Gerade dieses Stück ruft in Erinnerung, dass "schreiben" und "schreien" etymologisch zusammenhängen, dass das in die Stirn von Abels Bruder Kain geritzte Zeichen die allererste Einschreibung war, und dass es Verzweiflungsschreie waren, die Mahler der Partitur seiner Zehnten eingeschrieben hat: "Der Teufel tanzt es mit mir. Wahnsinn, fass mich an, Verfluchten!" Die Anweisung "Ferntrompeten – hinter der Bühne" signalisiert, dass die von Ruzicka stets mitgedachte Dialektik von Annäherung und Entfernung im sechsten Stück (7'04'') nach Mahlers Vorbild den Raum selbst zum Parameter macht. Ein forcierter Einsatz der Pauken ("rapidamente"), der vom Ton d der tiefen Streicher grundiert wird, scheint den allmählichen Aufbau von zunehmend differenzierteren Klangfeldern wie auch von statischen Klangflächen zu initiieren, in die sich sechsmal die "Fanfaren" der Ferntrompeten einschreiben. Mit der Spielanweisung "noch weiter entfernt" lassen sie das Werk über dem Ton d der tiefen Streicher verklingen. Es bleibt dem Hörer überlassen, die Perspektive näher zu definieren, die mit diesem Signal eröffnet wird.
MAHLER | BILD, Erinnerung für Orchester (2010) ist eine Auftragskomposition für das Staatsorchester Stuttgart. Erinnernd und verinnerlichend zugleich, rekurriert das 18-minütige Werk auf die Fragment gebliebene 10. Sinfonie Gustav Mahlers, vornehmlich „auf deren Adagio, das vor hundert Jahren musikalische Ausdrucksgrenzen durchbrach. Auf den Schrei des Neuntonklangs, jene Exklamation von Verlust und Verzweiflung. Auf die ins Unendliche weisende Bratschenlinie, die von Verlust und Abschied kündet und zuletzt in ein Auflösungsfeld von transzendenter Berührung mündet." (P.R.) Wie eine Chiffre des Zeitlos-Jenseitigen, das ganz allmählich die Musik in die irdische Zeit entlässt, steht gleich am Anfang eine Generalpause ('Absolute Stille'), die am Schluss der Komposition in der lungo-Fermate über dem pppp auszuhaltenden c der Bratschen (25'' Dauer!) ihr Gegenstück findet. Der Rahmen des Bildes, so scheint es, ist die Zeitlosigkeit selbst. In starker Streicherbesetzung (26 Violinen, 10 Bratschen, 8 Violoncelli, 6 Kontrabässe) baut sich, beginnend in den ersten Violinen, unendlich langsam ein Klangfeld um den Ton e herum auf, das durch choralartige Einwürfe der Bläser und Schlagzeugausbrüche konturiert und eingefärbt wird. Wie Ruzickas Texte seit vier Jahrzehnten immer wieder Mahlers Klangwelt umkreisen, so umkreist auch die Musik zentrale kompositorische Elemente des Vorbilds, „Mahler gleichsam konzentrisch umschließend" (P.R.), nimmt den Tonfall des Vorgefundenen auf und amalgamiert ihn mit dem Erfundenen, mit Ruzickas eigenem Idiom. Ein Zuspielband, als Raumklang vorproduziert (‚ „Farbiges Rauschen", im Raum kreisend') hüllt MAHLER | BILD ein, das gleichzeitig vom langsamen Kreisen mit Styroporstücken auf den Fellinstrumenten, einem hohen Dreitoncluster der elektronischen Orgel und verhuschten Interjektionen der Pauken eingeschattet wird. In dem wiederholten Aufschrei des neuntönigen Kulminationsklangs, der unbegleiteten Bratschenkantilene („espressivo, sprechend") und der Revelge-Allusion einer hinter der Bühne postierten Rührtrommel – allesamt Wasserzeichen von Mahlers Klangwelt – darf man so etwas wie einen Echtheitsnachweis des „Bildes" sehen, dem sich die Musik in subtil ausgehörten Klängen nähert, wie sie sich andererseits im permanenten Widerspiel von Nähe und Ferne von ihm abstößt, das sie hymnisch überwölbt und zugleich unter geräuschhaften Schraffuren verbirgt. In diesen vor allem teilt sich das Inbild des Mahlerschen Tones mit: eine Schönheit, die nur als gebrochene erscheint.
ZWEI ÜBERMALUNGEN für großes Orchester (2011/12) sind ein Auftragswerk für die Hamburger Philharmoniker. Es bezieht sich auf zwei solitäre Klaviermeditationen aus dem Spätwerk von Franz Liszt, deren undogmatische Rhetorik aus ihrer Zeit herausgetreten scheint und zugleich ihrer musikalischen Gegenwart antizipierend weit vorausgeeilt ist: Unstern! – Sinistre, disastro" (1885) und Am Grabe Richard Wagners (1883). Liszts Unstern! hat Ruzicka darüber hinaus zu einer Musik über Musik für Klavier inspiriert: ÜBER UNSTERN. Späte Gedanken für Klavier (2012). Dass die beiden Orchesterkompositionen zusammen aufgeführt werden sollen, hat gute Gründe. Als Spätwerke haben sie die Grenze im Blick, und die ist für Liszts spätes Schaffen da, um überschritten zu werden: nach vorn, weit in musikalisches Neuland hinein, und nach innen, eine Seelenlandschaft ausleuchtend. Unstern! – Sinistre, disastro, diese verspätete Zukunftsmusik, ist ein einziger Gewaltmarsch ins Unsagbare, und Am Grabe Richard Wagners hat schon mit dem ersten Takt die Grenze des Nennbaren hinter sich gelassen. Was in diesen Trauer- und Klagestücken beschworen wird, ist die Wahrheit des Ausdrucks von Verlust, Einsamkeit, Alter und Melancholie, die hier in der Heterogenität und Diskontinuität, im Nichtabgeschlossenen wie im scheinbar willkürlich Montierten, gezielt Unstabilen der Formgebung ihr klingendes Pendant gefunden haben. Solcher elegischen Formlosigkeit entspricht eine Instabilität tonalen Denkens, die im Initialmotiv des Tritonus von Unstern! bereits festgeschrieben scheint: die Musik begibt sich auf die vergebliche Suche nach der verlorenen Tonika. Die für Liszt untypische Harmonik des Spätwerks zielt nicht mehr auf die Erzeugung von Klangfarben, sondern auf das dissonante Abbild des Düsteren und Unheimlichen. Nicht umsonst hat Liszt hinter Unstern! ein Ausrufezeichen gesetzt. Mit ihm steht die Eichendorffsche Wortschöpfung nicht länger für eine vorübergehende kurzfristige Unbill, sie signalisiert vielmehr eine unabwendbare Katastrophe, eine Heimsuchung unter eingedunkeltem Himmel. Liszts Musik reagiert auf solche Erfahrung von Geworfenheit mit einer asketischen, von überwuchernden ornamentalen Elementen befreiten Tonsprache, die zu neuartigen Orgelpunkt- und Mixturtechniken und bisweilen zu perkussiver Klavierbehandlung findet. Die Musica paupera des 20. Jahrhunderts hat uns die Ohren dafür geöffnet, dass die Kargheit des reduzierten musikalischen Materials unseren Blick vielleicht nicht auf den gestirnten Himmel über uns, wohl aber ins Offene zu lenken vermag. Auch darin ist Lizts späte Klaviermusik ihrer Zeit weit voraus. Dieser Lesart der beiden Stücke verdankt sich die kompositorische Idee der beiden Werke von Peter Ruzicka, die keine bloße Instrumentation ihrer Vorbilder sind. Vielmehr wird im Modus der Akzentuierung, der Anverwandlung und des Übermalens das Subkutane freigesetzt, das die Zeitgenossenschaft dieser exterritorialen Musik für uns Heutige begründet. Solche versuchte Nähe kann sich auf eine originäre musikalische Poetik stützen, die sich zwischen fragmentarischer Geste und weit ausholender Bewegung artikuliert und deren Umrisse Ruzickas Werkkommentare erkennen lassen, so etwa zu dem 11-minütigen ÜBER UNSTERN: „Ich bin mit meinem heutigen musikalischen Material jener undogmatischen Rhetorik gefolgt: Bestimmte Gestalten werden aufgenommen, "angehalten", vergrößert und dann überschrieben. Es ist ein Weiterdenken in einer kontra-subjektiven Sprache. Diese versucht gleichermaßen Identifikation und Entfernung, Annäherung und Widerspruch zu formulieren." Im Rekurs auf die Motivik und die manischen Wiederholungen bei Liszt entwirft Ruzicka eine Klanglandschaft von bedrohlicher Atmosphäre, die sich selbst dort, wo ein schwermütig- kaltes Licht der hohen Streicher einstrahlt oder zirpende Geigentöne Naturlaute assoziieren lassen, dem Trost zu verweigern scheint. Doch lassen sich zwischen dem, was sich in knapp 11 Minuten zwischen dem pppp-Beginn der Großen Trommel und dem Unisono-Ausklang der Celli und Kontrabässe auf e zuträgt, auch Momente eines warmen Lichts ausmachen, die dem labilen Wegweiser ins Offene bei Liszt verwandt sind. Dass man sie gerade finden kann, wo Harfe, Celli und Kontrabässe über 50 Takte unisono auf kleinstem Raum (e – eis – fis – g) eine imaginäre Mitte wie manisch umkreisen – quasi eine Chiffre des Ausweglosen –, ist nur eines von vielen Rätseln, mit denen ÜBER UNSTERN den Hörer entlässt.
Am Grabe Richard Wagners ist ebenfalls eine Komposition von karger Strenge, die zugleich wie ein heruntergestimmtes Instrument das Nachlassen der Spannung verrät: eine gelähmte Musik, geboren aus dem Geist der Trauer. Wagners Tod in Venedig am 13. Februar 1883 wurde von der Campana a morto, der Totenglocke des Campanile, verkündet. Darin, dass Peter Ruzicka seine Komposition R.W. ÜBERMALUNG FÜR GROSSES ORCHESTER mit einem Schlag auf drei Röhrenglocken (campane tubolari) beginnen und mit drei Röhrenglocken (cis – gis – ais) ausklingen lässt, mag man einen Reflex auf jene überlieferte Verkündigung sehen: Die Glocken sind das A und O des Stückes, dem mit den letzten drei Schlägen auch die Todesstunde Wagners (3 Uhr nachmittags) eingeschrieben ist. Nach der Röhrenglocken-Initiale breiten die sordinierten Streicher eine Klangfolie aus, über der – von Holzbläsern und Hörnern übermalt – Tuba und Kontrabässe das aufwärts gerichtete Melos (= linke Hand) des Liszt'schen Vorbilds intonieren. Aus einem allmählich aufgebauten Klanggewebe schält sich sodann in Flöten, Klarinetten, Schlagzeug und Celesta das abwärts geführte Melos (= linke Hand) der letzten Takte der Vorlage heraus. Sekundreibungen (cis/c gis/a) im Streicherflor und das langsame Kreisen „mit weicher Bürste" auf dem Fell der Großen Trommel („wie ein Windhauch") bereiten die Epiphanie des 3-und 4-gestrichenen cis (zugleich Schlusston des Klavierstücks von Liszt) vor. Ruzickas Übermalung hat der Vorlage ihre Schwermut belassen und jeden Anschein von nachgetragener Verklärung ausgespart. Vielleicht berührt die Komposition gerade deshalb, weil sie die Conditio humana, als die der Tod erfahren wird, nicht "übermalt" hat. Sie steht damit ganz in der Nähe von Verdis ersten Worten, nachdem er die Todesnachricht vernommen hatte: „Triste, Triste, Triste. Wagner é moro."
Als Auftragswerk für das Schleswig-Holstein Musikfestival 2011 entstanden, repräsentiert das Oboenkonzert AULODIE den seltenen Glücksfall einer ganz unmittelbar packenden Symbiose von hohem virtuosen Zuschnitt, gedanklicher Tiefe der Partitur und großer expressiver Kraft der Musik. In sieben ineinander übergehenden Szenen von unterschiedlicher Dichte, Dauer und instrumentaler Balance lotet das Soloinstrument mit der begleitenden Klangformation – sie besteht aus 20 Streichern, 3 Schlagzeugern, Harfe, Klavier und Celesta – emotionale Grenzsituationen aus, die sich der Überlieferung nach mit dem altgriechischen Blasinstrument Aulos verbinden. Es war besonderen Anlässen vorbehalten, und so erklang es bei Hochzeitsgesängen ebenso wie bei Waffentänzen, bei Opferfeiern und wilden Satyrspielen, zur Weinlese und als Totenklage. Im Vertrauen auf die heilende Wirkung seines scharfen Klangs wurde der Aulos auch in therapeutischer Absicht eingesetzt. Allein der Titel des Werks öffnet also bereits einen facettenreichen Anspielungsraum. Und in der Tat wird der Hörer Faunisches und Elegisches, Panisches und Bukolisches, Heiteres und Träumerisches entdecken, und er wird durch den Wechsel der Gefühlslagen hindurch etwas von der Leichtigkeit des Seins spüren, die über allen "Szenen" liegt. Peter Ruzicka hat AULODIE "mein vielleicht romanhaftestes Werk" genannt. Wenn diese Musik im übertragenen Sinn romanhaft ist, dann hat sie e i n e n Gegenstand, den sie ständig umkreist, beschwört und auf subtilste Weise "feiert". Sein Name ist winzig klein in der Partitur vermerkt, wenn der Solist die in der letzten Szene eingewechselte Oboe d'amore wieder gegen die Oboe austauscht. Dort ist zu lesen: "canto". Was hier als ausdrücklicher Hinweis auf den sanglichen Vortrag des Soloparts gedacht ist, könnte programmatisch über dem ganzen Werk stehen. AULODIE markiert die Wiedergeburt der Musik aus dem Geiste des Gesangs, der in Ruzickas Schaffen überwintert hat. Wie befreit beginnt er als Vokalise im Solopart, der sich nach dem markanten, am Beginn einer jeden Szene textidentisch wiederkehrenden Eingangssignal von Zimbel und Pauke wie ungebunden verströmt und über einem pppp Streicherflor mit dem es''' der Oboe verklingt. Der Nachhall des Tamtam-Schlags macht die Höhe, zu der sich der "lange Blick" aufgeschwungen hat, geradezu sinnlich erfahrbar. In diesem großen Rahmen gibt es eine Fülle von Merk-Würdigkeiten, die sich dem ersten Hören einprägen. So der brüske Schluss der Oboe mit einem < sfff, das vom Unisono der Streicher beglaubigt wird. Die zweite Szene mit ihrem abwärts gerichteten Lineament der Oboe lässt das Bild von Narziss assoziieren, der sich im Brunnen spiegelt, während die verhaltenen Volten der Kleinen Trommel und die dichtgefügten Einlassungen der Streicher den Ansatz eines Trauermarsches erahnen lassen. Die dritte und vierte Szene – eine einzige große Volière mit zwitscherndem Innenleben, satyrhaft verhuscht und mit einer Generalpause von 7'' versetzt. Höchst einprägsam die Interjektionen der Harfe in der fünften Szene, die der Oboe einen liberamente-Exkurs gönnt und die den Hörer mit einem Terzquartakkord in der Celesta auf sanfte Weise verstört. Nach der sechsten Szene greift der Solist zur Oboe d'amore, deren Klang durch die verhaltenen Gesten im Schlagzeug noch an Weichheit und Wärme gewinnt. Mit dem Vermerk "canto" beim abermaligen Wechsel zur Oboe wird noch einmal verbrieft, was der Hörer längst erfahren und empfunden hat: die Wiederkehr des Canto, des weiten Atems, einer Musik des langen Blicks.
Der Werktitel CLOUDS großes Orchester mit Streichquartett (2012) weckt die Erwartung einer klingenden Wolkenkunde. Und in der Tat teilt sich beim Hören des Werkes etwas von dem Unsteten und Vergänglichen, dem Randlosen und Nichtgreifbaren mit, das die Geisterschrift der Wolken nicht erst seit William Turner bis hin zu Gerhard Richter zu einem bevorzugten Sujet der Malerei werden ließ. In CLOUDS vermeint man Wolken mit ihrer Schönheit und wundersamen Flüchtigkeit, aber auch als Abbilder und Urbilder von Angst und „transzendentaler Obdachlosigkeit" (Georg Lukács) hörend wahrzunehmen. In dieser Melange aus Faszinierendem und Bedrohlichem nehmen sich einige Passagen der Komposition wie Inseln der Ruhe und Geborgenheit aus: das Beständige als Widerpart zum Transitorischen und stetig sich Verändernden. Für dieses Bleibende in allem Wandel steht hier der „Klang" ein, der wie die arpeggierten Akkorde der Äolsharfe in Franz Schrekers Oper ein „ferner Klang" ist, und so erhält „Ferne" selbst – seit je ein eigentümlicher, unverwechselbarer Gestus bei Ruzicka – den Rang eines höchst bedeutsamen Parameters, und das sowohl als räumliche Dimension wie auch im Sinn von „Gefühlsaura". „Die Musik begibt sich auf die Suche nach einem imaginären fernen Klang, dem sie nahe kommt, ohne ihn je vollends zu erreichen. Der Weg führt durch Klangwolken, kristalline musikalische Gestalten, die in unterschiedlicher Formung und Dichte den Blick zu versperren scheinen. Dann wird die Klangrede durch einen heftigen Ausbruch des ganzen Orchesters überdeckt. Schließlich werden Felder der Erinnerung an Vergangenes betreten. Zunehmend fragile, musikalisch übermalte Gestalten säumen den Weg. Und allmählich scheint die Musik zurückzukehren." (P.R.) Die Partitur mit ihren vielfachen Verdichtungen durch geteilte Streicher, einem großen Bläseraufgebot, einem umfänglichem Schlaginstrumentarium und dem dieser Besetzung noch inkorporierten, gleichwohl solistisch postierten Streichquartett stellt den Versuch dar, visuelle Vorstellungen in Klangwolken mit unterschiedlicher Konsistenz, je eigenen Rändern und je individuellen Tempi zu übersetzen. In den Wolken, das lernt der Hörer, gehen die Uhren anders. Sie haben ihre eigene Zeit, eine Wolken-Zeit, die sich einzig am großen Rhythmus der Jahreszeiten, am Kräftespiel von Ebbe und Flut, am ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen bemisst. Nach den ersten elf Takten, die vom Streichquartett und den mit einem Kontrabassbogen gestrichenen Zimbeln bestritten werden, nimmt man ein Harfen-Flageolett wahr, das die Äolsharfe in Franz Schrekers Oper "Der ferne Klang" ebenso assoziieren mag wie Mörikes Frühlingsgedicht "Er ist's": „Horch, von fern ein leiser Harfenton!" Und wie ein nachdrücklicher Hinweis auf die innere Nähe zu Schrekers Vision markieren Harfe und ein fein abgestimmter Schlagzeugpart über 20 Takte allein die Mitte des Werkes, in dessen letztem Takt ein einsamer tiefer Harfenton (c), sekundiert von einem javanischen Buckelgong, ausklingt. Der ferne Klang selbst, ein quasi tonal begründeter Akkord, huscht wie eine Chimäre am Ohr des Hörers vorüber, bleibt scheinhaft, nur angedeutet, ein kaum vernehmbares „Als ob". Unmerkliche, nicht synchrone Einsätze, flirrende Klangfelder der Streicher, ein bis zur beklemmenden Leere ausgedünntes Klanggeschehen sind Ingredienzen einer virtuos auskomponierten Ungenauigkeit, die das Unfassbare des fernen Klangs, ja der Musik selbst, hörbar vermittelt. Im Umfeld solch produktiver Unschärfe, die das Undeutliche so vieldeutig macht, nimmt sich der exzessive Ausbruch des gesamten Orchesters in seiner Direktheit exterritorial aus: ein akustischer Ausnahmezustand, der sich ebenso schnell verflüchtigt wie er über den verwunderten Hörer hereingebrochen ist. Wenn ihm – wie hier vielleicht – Assoziationen und Bilder den Zugang nicht mehr ebnen, dann sollte er sich mit seiner Ratlosigkeit auf die Rätselhaftigkeit der Musik einlassen, die bei Ruzicka immer auch Bestandteil des ästhetischen Programms ist. Sie ist – nach Erhart Kästner – ein Gütesiegel heutiger Kunst insgesamt: „Es ist nur noch das Rätsel, das Rat gibt."
Peter Becker
2013-2022 (Uwe Sommer-Sorgente)
Im Jahr 2013 setzte sich Peter Ruzicka in zwei Werken mit einer seltenen Spielart des Instrumentalkonzerts auseinander: Nicht einem oder zwei Instrument(en) ist der Solopart zugeschrieben, sondern einer Quartettformation. SPIRAL für Hornquartett und Orchester ist gleichwohl ganz nah am Solokonzert, denn Ruzicka behandelt die vier Hörner wie ein einziges Instrument, ein hybrides „Mega-Horn“, das sich nur in einer einzigen Passage in vier Stimmen individualisiert. Das Werk entstand im Auftrag des mdr und ist dem Leipziger Hornquartett auf den Leib geschrieben, das nicht nur Ideengeber, sondern auch am Kompositionsprozess beteiligt war.
Die kompositorische Idee des Werktextes ist die Figur einer Spirale, die durch ihre besondere Ineinssetzung von Zeit und Raum vielleicht „musikalischste“ geometrische Form. Die Begehung einer Wendeltreppe aus Lochplatten mag das optische und zugleich zeitpsychologische Äquivalent dieser Musik sein: Ob aufwärts oder abwärts – das Vorankommen ist immer auch ein Blick zurück, jede Drehung bedeutet die Begegnung mit etwas schon Gewesenem, eine Wiederholung im Wortsinn auf anderer Stufe, im Verlauf potenziell endlos. Jede Bewegung vollzieht sich gleich nah oder fern vom imaginären Zentrum. Anders als die meisten Werke Ruzickas beginnt SPIRAL nicht mit leisen, aus dem Nichts wachsenden Klängen, sondern mit einem erregten, dunklen Grollen in den tiefsten Registern von Bläsern, Schlagzeug und Streichern. Auf einen diffusen Klangschatten der Streicher folgt die zornige Antwort des Hornquartetts. Damit sind die Zeichen für den ersten Teil der Komposition gesetzt. In vielen „Drehungen“ gibt die Musik Blicke auf immer neue Zustände dieser drei Texturen frei, sich verdichtend, zersetzend und festlaufend, in Generalpausen innehaltend – bis ein Trommelwirbel dem ziellosen Treiben Einhalt gebietet. Angesichts des Gewesenen gleicht der nun folgende langsame Teil einer Klage der Vergeblichkeit. Wo die Hörner vorher aufbegehrten, tun sie sich hier zu Beginn mit den tiefen Bläsern zu einem durchdringenden Unisono zusammen, an dessen Anfang und Ende der emblematische Tritonus steht, der „diabolus in musica“. Aber am in sich kreisenden Verlauf des Stücks ändert dies nichts. Wieder muss ein radikaler Bruch her: In einer hochvirtuosen Kadenz dürfen die vier von Pauken und Klavier sekundierten Hörner sich zumindest vorübergehend individualisieren. Doch der Gang stockt zunehmend und verebbt. Im dritten und letzten Teil von SPIRAL verdichten sich richtungslos umherirrende Klangpartikel zu einer variierten und die Grenzen des physisch Machbaren streifenden Wiederkehr (oder ist es eine Wiederaufnahme?) des ersten Teils. Sie mündet in eine zarte Coda, in deren dunkler, trauernden Stille die Stürme nachklingen. Spätestens hier wird der persönliche Hintergrund von SPIRAL musikalisch evident: Ruzicka schrieb das Stück unmittelbar nach dem Tod Hans Werner Henzes, als „Memorial für meinen wunderbaren Lehrer und Mentor“. Und als Wegbegleiter, wäre zu ergänzen: Ob in ihren Kompositionen oder ihrem gestalterischen Wirken als Intendanten gingen Ruzicka und Henze geistig über Jahrzehnte Hand in Hand auf der Suche nach immer neuen Klängen.
Ein Werk von Peter Ruzicka als „work in progress“ zu bezeichnen, grenzt an Tautologie, gehört das Unabgeschlossene, Weiterzudenkende doch zur DNA seines ästhetischen Bewusstseins. Viele seiner Stücke tragen die Idee, dass die Komposition weniger einem vorab festgelegten Plan folgt, als dass sie sich in jedem Moment selbst erfindet und jederzeit auch anders fortfahren könnte. Dies zeigt sich vielfach bereits im Titel – dem Bratschenkonzert „…den Impuls zum Weitersprechen erst empfinge …“ bis hin zum 35 Jahre später entstandenen 7. Streichquartett „possible a chaque instant“. CLOUDS bezeichnet Ruzicka selbst dezidiert als „work in progress“, aus gutem Grund: Direkt nach der Uraufführung der ersten Fassung für großes Orchester beim Rheingau Musikfestival im August 2012 entschied er sich, durch die Hinzufügung eines Streichquartetts eine „zusätzliche Ebene in die musikalische Architektur des Stücks einzuziehen“ (P. R.). CLOUDS für Orchester und Streichquartett wurde im Mai 2013 in Berlin uraufgeführt. Im selben Jahr noch erweiterte Ruzicka diese Fassung um einen neuen Abschnitt, in dem das nun eher konzertante Streichquartett deutlich in den Vordergrund tritt und zum Impulsgeber der musikalischen Entwicklung wird: CLOUDS 2 für Streichquartett und Orchester war im Dezember 2013 fertig und wurde im Juni 2015 in Linz uraufgeführt.
Wie in SPIRAL ist auch in CLOUDS 2 der Werktitel ein Schlüssel für die Erfahrung von Zeit und Raum, mit der die Musik den Hörer umhüllt. Peter Becker hat die in einem musikalischen Ungewissheitszustand und potenziell grenzenlosen Raum sich zutragende Suche nach dem „fernen Klang“, dem noch Unerhörten, treffend beschrieben. Im neu komponierten zweiten Teil von CLOUDS 2, der in etwa halb so lang ist wie der ursprüngliche, wird dieser Prozess noch einmal intensiviert. Das Streichquartett tritt im Vergleich zu seiner Rolle in CLOUDS wie ein aktiver Mitspieler der Suche nach dem Imaginären auf, die Musik erhält ein ausstrahlendes Zentrum. Es zieht andere Orchestergruppen mit, um die „Wolken“ aufzureißen, doch wieder schimmern nur zarte Klanggesten, Ansätze von konsistenten Gestalten durch das mehrschichtige Gewebe. Wie in SPIRAL treten die vier Akteure des Solistenquartetts hier fast durchweg wie ein Klangkörper auf, ob in mehrstimmig rasenden Zweiunddreißigstel-Kaskaden, im insistierenden Unisono eines hohen Liegetons oder scharf dissonanten Akkordrepetitionen. Woher aber stammen diese schemenhaften Figuren, die immer wieder aufscheinen? Zweifellos sind es Erinnerungen, wie Fetzen von Träumen, die nicht zu rekonstruieren sind, vielleicht aber auch niemals als Ganzes existierten.
Der Moment der vielleicht größten Annäherung an diese fernen Klänge ist eine Passage, die auch in der ersten Fassung bereits die Zeit stillstehen ließ: Eine achttaktige, vom Streichquartett gespielte statische Klangfolge im pianissimo, die mehrfach wiederholt wird und über die sich nach und nach immer mehr Schatten legen. Es ist ein senza vibrato auszuführendes Spiel mit dem Tritonus, der Oktave, der kleinen Sekunde und verminderten Akkorden. Diese Elemente wirken hier wie sterile, gleichsam ihrer eigenen Geschichte beraubten Bausteine von komplexen Klanglandschaften, wie sie etwa auch Franz Schreker meisterhaft zu erfinden wusste. Und aus ihnen setzen sich auch jene Gestalten zusammen, die von den Wolken (der Geschichte?) in dieser Musik immer wieder freigegeben werden.
Die Auseinandersetzung mit dem Fragmentarischen, Unabgeschlossenen ist die vielleicht bedeutsamste Konstante in Peter Ruzickas Schaffen, vor allem als Komponist, aber auch als Musikforscher. Das Rätselhafte, das dem Unvollendeten genuin innewohnt, ist ihm Inspiration und Herausforderung voller Fragen. Warum bricht ein Werk an genau dieser Stelle ab? Warum ist eine musikalische Idee nicht fortgeführt worden? Und, für den Prozess der kompositorischen Auseinandersetzung noch bedeutsamer: Wie wäre eine Fortführung möglicherweise gestaltet worden? Wie könnte es weitergehen? Ruzicka geht es dabei indes nie darum, etwas Unvollendetes zu „vollenden“. Sein Weiterdenken ist nie ein Abschließen – im Gegenteil: Er legt das Erratische gleichsam unter ein Brennglas, forschend und nachspürend. So wie Ruzicka sich auch immer wieder von besonderen, „exterritorialen“ Passagen aus vollendeten Werken inspirieren ließ, wie seine Kompositionen über bestimmte Momente bei Haydn, Schumann und Mahler eindrücklich belegen. Die dem Freund und bekennenden Wagnerianer Christian Thielemann gewidmete ELEGIE, Erinnerung für Orchester (2014) ist ein weiteres Kapitel dieser Geschichte einer „Musik über Musik“, die Ruzickas Œuvre erzählt. Ausgangspunkt der Komposition sind die letzten Takte, die Richard Wagner zu Papier brachte, eine 1882 in Palermo entstandene Klavierskizze, die als „Porazzi“-Fragment in die Geschichte eingegangen ist. Es heißt, Wagner habe diese Skizze noch in der letzten Nacht seines Lebens in Venedig seinen Freunden vorgespielt. In Palermo hatte Cosima in ihr Tagebuch notiert: „Er schreibt eine Melodie nieder, zeigt sie mir dann und sagt, er habe endlich die Linie wie er sie wünschte“. So fremd Peter Ruzicka das künstlerische und moralische Sendungsbewusstsein Wagners sein mag: Hier ist Nähe, decken sich die Wünsche und Visionen. „Wagners Klavierskizze beschäftigte mich schon seit langer Zeit. Ihre Offenheit und Unbestimmtheit veranlasste mich zu einem ‚Fortdenken‘, zu einer sehr persönlichen musikalischen Annäherung und Entfernung,“ sagt Ruzicka zu seiner ELEGIE. Einzelne Klanggesten und melodische Ansätze im typisch Wagnerschen Duktus schälen sich im Verlauf des Werks in verschiedenen Zuständen aus filigran ausgehörten, von Schlagzeug und Flöten schattenhaft angereicherten Texturen der vielfach geteilten Streicher heraus, werden überlagert, verschwinden, erreichen gegen Ende den größten Konkretionsgrad, bleiben aber mehr Frage als Behauptung. Der Grundton ist zart und zerbrechlich, im Mittelteil gibt es aber auch ganz „unelegische“, aufbegehrende Momente und ein flehendes Unisono der Bratschengruppe, das ganz aus Wagners Idee einer musikalischen Prosa geboren ist. Für Ruzicka ist Wagners Skizze eine Liebeserklärung an Cosima. Sie klingt unüberhörbar nach „Tristan“– ein Moment des Rückblicks und der Selbstbeobachtung am späten Abend des Lebens? Ruzicka amalgamiert dieses Nachsinnen mit seiner ganz persönlichen musikalischen Gedankenwelt, in der die Fragezeichen die Syntax bestimmen. ELEGIE endet mit einem ungetrübten Dreiklang in As-Dur, der Tonart des „Parsifal“, den Wagner vor der Niederschrift der Skizze vollendet hatte. Im Kontext von Ruzickas Schaffen ist auch dies ein Fragezeichen.
Ob und in welcher Weise Peter Ruzicka die in Zusammenhang mit seinem 7. Streichquartett artikulierte Selbsterfahrung eines Komponierens, das weniger das Werk als Ganzes fokussiert als den Prozess seiner Entstehung, auch in der Arbeit an den seither entstandenen Werken gemacht hat, weiß am Ende nur der Komponist selbst. Die Gestalt der meisten Partituren spricht dafür: Immer wieder arbeitet Ruzicka mit Materialmetamorphosen, deren Überraschungs-Reichtum sich vor allem in der Zusammenschau mehrerer Kompositionen erschließt. Das Überraschende geht dabei stets einher mit viel Wiedererkennen, denn nicht nur erinnert die Musik bis in die Details ihrer Machart und Klanglichkeit an Früheres, auch die dramaturgischen Prozesse folgen lange vertrauten Mustern seines Komponierens. Sie sind nun aber noch konsequenter und vor allem freier ins Werk gesetzt. Der für Ruzickas Werkästhetik sprechende, Adornos Mahler-Exegese entlehnte Titel seines Bratschenkonzerts „…den Impuls zum Weitersprechen erst empfinge…“ (1981) scheint in jüngerer Zeit ins Aktive gewendet, die vorsichtig tastenden Befreiung aus der Sprachlosigkeit überwunden. Der „Geist“, die Imagination wählt selbstbewusst aus den potentiell unendlich vielen Möglichkeiten des Verlaufs und macht dieses Wählen hörbar. Hat der Komponist früher das unabwendbare Fortschreiten der Zeit in vielen Formen der musikalischen Bespiegelung gleichsam sistiert, gleicht die Bewegungsrichtung nun der potentiell unendlichen Gestalt einer Spirale.
Auch ein LOOP ist potentiell unendlich. In seinem gleichnamigen Trompetenkonzert (2017), einer Auftragskomposition von musica viva/BR, hat Ruzicka die formulierte kompositorische Selbsterfahrung in der Form eines brillanten, spielfreudigen Solokonzerts weitergedacht. Das Stück ist zugleich auch das erste einer Reihe von Nachklängen seiner Oper „BENJAMIN“. Das Erinnern, das Erinnern des Erinnerns, das Nachempfinden, möglicherweise das nachträgliche Infrage-Stellen, auf jeden Fall aber das Weiterdenken…, die werkübergreifende Auseinandersetzung mit bestimmten Klängen gewährt immer auch einen Blick in die Seele des Komponisten.
Die hörende Aufmerksamkeit gilt in LOOP jedoch zuallererst dem raffiniert erdachten Solopart. Er erfordert zwei Spieler (Piccolotrompete und normale Trompete/Flügelhorn), deren Parts sich weitgehend komplementär zu einer Stimme ergänzen. In rasend schnellen Passagen entsteht eine „Über-Virtuosität“, die den theatralen Gestus einer hitzigen Debatte zweier Diskutanten suggeriert und zugleich das Prinzip der Virtuosität bewusst „vorführt“ (P. R). Die schnellen Abschnitte sind Kaskaden der Wiederholung und Veränderung einer aus Zweiunddreißigstel-Ketten bestehenden Urzelle. Die Solostimme wächst aus dem Orchesterpart heraus, übernimmt aber alsbald die Führung und dialogisiert mit den anderen Instrumenten in verschiedensten Spielarten. Mit dem allerersten Tutti dann – vorbereitet von einem der für Ruzicka so typischen martellato-Figuren der Pauken – der erste Einbruch eines Anderen: Mit massiven Paukenschlägen und einer der für die „Benjamin“-Partitur konstitutiven Streichertexturen zieht eine dunkle Wolke in die Musik. Der Schock hallt nach, nur zaghaft nimmt das Spiel wieder Fahrt auf. Die Zeichen sind gesetzt. Ein zweiter „Benjamin“-Schatten führt in einen langsamen Teil, in dem die Solostimme nun zum sprechenden und singenden Ich wird. Lange Bögen, große Intervalle, extreme dynamische Werte – das Instrument darf sich gleichsam opernhaft in ungehemmter Expressivität entfalten. Eine kurze Reprise des ersten Abschnitts führt in eine kontemplative Coda. An die Stelle der Trompete tritt nun ein Flügelhorn, das das Werk mit einem leisen, zart begleiteten „Canto“ offen ausklingen lässt. Rastlosigkeit und Kontemplation: Die Pole dieser Musik umschreiben auch die Wesenszüge von Walter Benjamins zerrissener Persönlichkeit.
Auch FURIOSO für Orchester besticht durch aberwitzige Virtuosität. Ruzicka schrieb das Stück 2018 für das Grafenegg Festival in Niederösterreich, auf dem er im folgenden Jahr Composer in Residence werden sollte. Auslöser für die Idee des Stücks war ein Gespräch, das Ruzicka mit Christian Thielemann über die Frage führte, warum es in der Neuen Musik keine Ouvertüren mehr gebe. Ruzicka erinnerte sich an die zu ihrer Zeit sehr erfolgreiche Orchesterouvertüre „Furioso“ seines Freundes und Vorgängers als Intendant der Hamburgischen Staatsoper Rolf Liebermann. Orchestriert hat Ruzicka sein Stück für nahezu die gleiche Besetzung, und auch in der instrumentalen Gestik gibt es deutliche Anklänge, nur treibt Ruzicka die Virtuosität noch sehr viel weiter: „Mich interessieren Grenzüberschreitungen, eine musikalische Zweisprachigkeit. Der Wechsel zwischen der gegenwärtigen und der irrealen Ausdrucksform“. Wie in „Loop“ sind rasende Zweiunddreißigstel-Ketten in Streichern und Pauken die Keimzelle eines Verlaufes, der mehr und mehr zum „Grenzfall“ (P. R.) wird – vor allem durch das enorme Tempo, das Ruzicka vorgibt. Im ruhigen Mittelteil scheint erneut „Benjamin“ auf, störend und verstörend: Die diffusen Klangflächen der vielfach geteilten Streicher und markante Impulse in Bläsern, Schlagwerk und Klavier sind wie Sand im Getriebe des Weltlaufs, vielleicht auch ein Innehalten in einer Rastlosigkeit, die heiß zu laufen droht. Doch der Motor läuft wieder an, nimmt Spuren der Verstörung mit, gebiert neue, fast schreiende Expressivität, um schließlich in einem Exzess von Wiederholungsmustern im ff sich emporzuschrauben und an die Decke des Möglichen zu stoßen.
FURIOSO ist exemplarisch nicht nur für Ruzickas Fähigkeit, eine fremde oder eigene kompositorische Idee ebenso inspiriert wie versiert weiterzudenken, sondern auch dafür, wie sich seine anderen Betätigungsfelder, die des Dirigenten und des internationalen Musikmanagers, unmittelbar aufs Komponieren niederschlagen. Inspiriert von zwei Weggefährten aus beiden Bereichen ist es ein Gelegenheitswerk, das – nicht zuletzt aufgrund der alltagstauglichen Orchesterbesetzung – zum Repertoirestück taugt.
Schon Alban Berg und Bernd Alois Zimmermann wussten: Ein Werk des Musiktheaters auch über den Konzertsaal der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist angesichts der immer kürzer werdenden Lebensdauern neuer Bühnenwerke im Repertoire der Opernhäuser eine kluge Entscheidung. Der erfahrene Opern-Ermöglicher Peter Ruzicka gab sich diesbezüglich keinen Illusionen hin. Bereits aus den beiden früheren Opern CELAN (1998/99) und HÖLDERLIN (2008) schmiedete er im Abstand von etwa zwei Jahren nach der Uraufführung Vokalsymphonien, die als große Extrakte in den musikalischen Kosmos der Opern führen, ihre Hauptfiguren vorstellen und zentrale Stationen der Handlung skizzieren. Motivierend für diese Praxis war aber gewiss nicht nur der Wunsch, das Werk öffentlich am Leben zu erhalten. Es gehört seit je zu Ruzickas Naturell, mit einer einmal erfundenen Klangwelt, einer musikalischen Materialität oder Verlaufsform gleichsam zu leben und sich in immer wieder anderen Kontexten mit ihnen auseinanderzusetzen. In diesem Sinne ist auch die BENJAMIN-SYMPHONIE für Bariton, Koloratursopran, Kinderchor und Orchester (2018) als eine weitere Station auf einer Reise zu verstehen. Und als neue Versuchsanordnung: Wie „spricht“ die Musik ohne die Szene? Wie verhält sich das Material, wenn es seinem „gewohnten“ Vorher und Nachher beraubt und in einen symphonischen Organismus versetzt ist? – Ruzickas musikalisches Vokabular hat eine Charakteristik, die sich in diesem Zusammenhang als ungemein wertvoll erweist: Es hat einen hohen Wiedererkennungsfaktor und ist zugleich so biegsam, dass Veränderungen und Verschmelzungen die Identität der einzelnen Gestalten nicht gefährden.
BENJAMIN ist ein Musiktheater in sieben Stationen. Für die BENJAMIN SYMPHONIE hat Ruzicka wiederum sieben Momente aus dem Bühnenwerk ausgewählt, die dessen Chronologie entsprechen. Nur die dem Chor gewidmete 5. Station – eine Überschreibung des 4. Entwurfs aus der Oper CELAN – ist ausgespart. Dafür speisen sich die zweite und dritte Station beide aus der zweiten Station der Oper. Recht breiten Raum in der Symphonie nehmen rein instrumentale Teile des Bühnenwerks ein: Das Vorspiel und zwei Zwischenspiele.
Die Symphonie beginnt (wie auch die Oper) mit einer emphatisch von den ersten Geigen „gesungenen“ Linie, deren Kopfmotiv Gis-A-Dis sich in verschiedenen Varianten wie ein diastematisches Emblem durch die im Umkreis von „Benjamin“ entstandenen Werke zieht. Ist es Zufall, dass die Tonfolge die rückläufige Form der Oberstimme eines Hauptmotivs des eindringlichen „Jerusalem“-Chors aus CELAN ist, der seinerseits sein Urbild im 5. Fragment der Komposition „Gestalt und Abbruch“ von 1979 findet? Aus solchen Verbindungslinien spricht die Empathie, die der Komponist beiden heimatlosen, unentwegt suchenden Dichtern und Denkern entgegenbringt und die seit Langem Leitbilder seiner Weltsicht sind.
Ein weiteres Element, das in dieser wie auch in anderen Partituren in zahllosen Varianten wiederkehrt, ist das auf- und abschwellende Klangfeld, mit dem die vielfach geteilten Streicher das Melos der Hauptstimme unterlegen, verschatten, bespiegeln. Diese und viele andere, gleichsam flüssig sich verändernde musikalische „Vokabeln“ prägen einen Orchestersatz voller Gegensätze und Geheimnisse. Die Gesangsparts der beiden Protagonisten (Walter B. und Asja L., die »bolschewistische Prinzessin und marxistische Theatergöttin“, in die sich Benjamin verliebt), sind überwiegend instrumental geführt. Hier der hysterische Impetus der überzeugten Marxistin, die den Philosophen auf ihre politische Seite ziehen will, dort die kleinschrittiger gehaltene, flehende Diktion des zweifelnden Juden, der versucht, die attraktive Frau für sich zu gewinnen. In ihrem großen Duett singen sie aneinander vorbei. Lediglich im Projekt eines proletarischen Kindertheaters finden die beiden kurzzeitig zusammen. Das Leben Walter B.s bleibt eine Flucht. Seine letzten Worte: „Ich darf nicht zu spät kommen“.
DEPART. Konzert für Viola und Orchester schrieb Ruzicka im Jahr 2020, zur Zeit der aufkommenden Corona-Pandemie. Das Stück ist wie ein Aufschrei aus der Einsamkeit. Klage. Verstummen. Beweggrund der Komposition war allerdings einmal mehr Paul Celan. DEPART ist – 50 Jahre nach dessen Freitod – „eine Trauermusik zum Gedenken an diesen großen Dichter, der wie kein anderer die Wunden des 20. Jahrhunderts zu benennen wusste.“ (P. R.) Davon erzählt der Titel: Kurz bevor der Dichter am 20. April 1970 mit dem Gang in die Seine seinem Leben ein Ende bereitete, schrieb er in sein Notizbuch: „Départ Paul“. Ein dritter Bezugspunkt mag den „Ton“ des Konzerts beeinflusst haben: Ruzicka widmete DEPART dem hochgeschätzten Kollegen und Weggefährten Wolfgang Rihm zum 70. Geburtstag, mit dem ihn eine – vielleicht gerade wegen der so gegensätzlichen Temperamente beider Komponisten – besondere Freundschaft verbindet.
Schon der Beginn von DEPART hat mit der auf das wuchtige CIS-Unisono in den tiefen Streichern (eine Art Zentralton – nicht nur – dieses Werks) folgenden, sich von eben jenem CIS sich emporschraubenden Figur in der Solo-Bratsche eine gestische Wucht, die an die Physis Rihmscher Klangerfindungen gemahnt. Sie gibt den Weg für das Stück vor, in dem die Solostimme bis hin zu ihrer furiosen Kadenz vor einer stillen Coda unterschiedlichste emotionale Register durchläuft. Der Schrei wird zum Gesang, zum Protest, zum Seufzer, zum Schweigen. Wie ein Klangschatten geistert BENJAMIN auch durch diese Partitur: Im Orchesterpart finden sich immer wieder Zitate und Metamorphosen einiger Klangflächen und -figuren aus der Oper, die auch in LOOP und FURIOSO schon aufschienen. Ein „Départ“, ein Abschied auch von der musikalischen Welt, die Ruzicka für den anderen Einsamen und Verfolgten, der den Freitod wählte, erfunden hatte?
Welch ein Bogen vom Streichquartett „…fragment …“, das Ruzicka im Mai 1970 als Requiem für Paul Celan schrieb, als er gerade die Nachricht vom Suizid des Dichters erfuhr, zu diesem großbogigen Solokonzert! Damals die offene Form, in der das Ungesagte zum Eigentlichen wurde, nun diese hochexpressive, sprechende Musik, die gleichsam durch die Sprachlosigkeit gegangen ist und die Trauer sprachgewaltig artikuliert.
Die Partitur des Orchesterwerks ZUSCHREIBUNG trägt nicht von ungefähr das Datum 31.12.2019: Tags drauf begann das großangelegte Jubiläumsjahr zu Ehren Beethovens, der Impuls auch für dieses Stück. Es ist Teil eines sechsteiligen Gemeinschaftswerks, an dem neben Ruzicka die Komponisten Manfred Trojahn, Judit Varga, Eivind Buene und José María Sánchez-Verdú beteiligt waren. Dieses Werk wiederum gehört zu dem Gemeinschaftsprojekt „beEnigma, das im Rahmen von BTHVN2020 stattfand. Grundidee von ZUSCHREIBUNG ist das „Überleben“ einer sehr intakten musikalischen Zelle in sehr unterschiedlichen klanglichen Umgebungen. Diese Zelle ist eine „choralartige Passage, die der Beethovenzeit zugeschrieben werden könnte. Sie gerät in eine musikalische Perspektive von Annäherung und Entfernung und behauptet sich in einem stillen Umfeld wie auch inmitten der Turbulenz einer rasenden Orchesterbewegung.“ (P. R.) Alles scheint möglich, selbst aus der Ausweglosigkeit, als sich die Musik in Überhitzung festgerannt hat, taucht die Zelle wieder hervor. Nun aber sekundiert von einer „aus der Ferne“ klingenden Solotrompete, die – eine Reverenz an Charles Ives – das Gewesene unter ein großes Fragezeichen stellt.
Die Ausnahme bestätigt die Regel: ZUSCHREIBUNG ist unter Ruzicka jüngeren Werken das einzige, in dem konkrete musikhistorischen Bezugswelten, die für sein Schaffen in den 1970er bis 1990er Jahren so impulsgebend waren, für die Werkgestalt eine gewisse Rolle spielen.
2021 formte Peter Ruzicka zwei Werke aus früheren Jahren und eine Neukomposition zu einer KAMMERSYMPHONIE für ein gemischtes Kammerensemble. Es sind drei klanglich sehr unterschiedliche Charakterstücke, die auch als Studien über bestimmte formale Entwicklungsmuster zu verstehen sind. Das erste Stück entstand 2012 als Auftragswerk der Stadt Karlsruhe aus Anlass des 60. Geburtstages von Wolfgang Rihm. Es trägt den Titel JE WEITER ICH KOMME, DESTO MEHR FINDE ICH MICH UNFÄHIG, DIE IDEE WIEDERZUGEBEN – ein Briefzitat von Gustav Flaubert, das Rihm am Rande der Partitur seiner „Musik für drei Streicher“ (1977) notierte. Es steht an einer Stelle im letzten Satz dieser fast einstündigen Komposition, an der die Musik in einem unablässig im fff wiederholten c-Moll-Akkord manisch („maniaco“ ist die Spielanweisung) auf der Stelle tritt. Peter Ruzicka: „Meine Komposition bewegt sich auf diese Stelle zu, zunächst fragmentarisch, tastend, nur allmählich Sprache findend. Dann immer ausbruchshafter, ekstatisch, kreisend. Aber sie scheint den imaginären Fluchtpunkt zu verfehlen ...“ Das Material, das Ruzicka für diese Entwicklung in Gang setzt, besteht aus zwei, später drei 6-10taktigen, von Pausen durchsetzten Klanggruppen, die in wechselnder Reihenfolge mehrfach wiederholt werden. Sie bestehen jede für sich aus feinen Impulsen, die jedoch zunehmend unter Druck geraten und in den turbulenten Verdichtungen gegen Ende kaum noch zu atmen scheinen. Der an Rihm anknüpfende „manische“ Akkord ist bei Ruzicka ein dissonanter, von den drei Streichern gespielter Sechsklang. Er löst eine Klang-Apokalypse aus, nach der wie ein Ascheregen nur ein leiser Nachklang des Ausgangsmaterials bleibt. Ende oder Neubeginn?
Im kurzen Stück JAGD (2021) setzt eine Militärtrommel den Impuls für einen Verlauf, der den Titel ganz direkt einlöst. Ihr Solo ist eine rhythmisch und symmetrisch im Wortsinn ver-rückte Marschsequenz, die das Ensemble zunehmend hektisch und wütend kommentiert. Doch wohin geht die Jagd? Der Klangkörper wird größer, spaltet sich auf und verliert die Orientierung – bis das Geschehen unvermittelt auf einem es-Moll-Akkord landet. Ein aus der Ferne erklingendes Oboensignal „gebietet Einhalt“ (P.R.) und übernimmt fortan die Führung, Fragmente aus der vorherigen „Jagd“ klingen nach. Ein Aufrütteln im Sinne von „so geht es nicht weiter“ – aber alles andere als eine Lösung.
Der letzte Satz der Kammersymphonie STILL (2017) trägt den Untertitel „Memorial für Posaune und Kammerensemble“. Im Fokus der Komposition steht die Solostimme, die ihren ruhigen „Gesang“ fast über das ganze Stück ausbreitet. Er beginnt mit einem initialen Motiv aus Halbton- und Tritonus-Schritten, das in verschiedenen Varianten Ruzickas Melodik jüngerer Werke immer wieder vorkommt. Eingebettet ist die Stimme in das Gegenüber aus einem ruhigen Klangfeld der Streicher und schnellen, schattenartigen Impulsen der Bläser. Die Harmonik dieses Klangfelds unterstreicht die zentrale Bedeutung des Tritonus Zu den sieben in wechselnder Reihenfolge wiederkehrenden Akkorden gehören reine Fis-Dur- und C-Dur-Klänge. Nach einem nur kurzen dynamischen Aufruhr führt STILL ins allmähliche Verlöschen.
Unter den großbesetzten Werken der letzten Dekaden, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den drei Bühnenwerken entstanden sind, nimmt EINGEDUNKELT für Violine, Kammerchor und Orchester eine Sonderstellung ein. In der Partitur fließen besonders viele der Markenzeichen zusammen, die Peter Ruzickas Oeuvre zu einem so eigenständigen, in sich stimmigen und zugleich stets sich weiterentwickelnden Korpus machen. Das Stück entstand „während des ganzen Jahres 2021 in einer Zeit pandemiebedingter Einschränkungen.“ (P. R.). Für den vielbeschäftigten Musikmanager und Dirigenten, dessen Zeitfenster für das Komponieren stets eng bemessen waren, eine ungewohnte Situation. Man spürt in der Musik die kontemplative Rückschau, aber auch die Wut und Verzweiflung des Ausgeliefertseins. Retrospektiver Anknüpfungspunkt für die Werkgestalt ist Ruzickas erstes Violinkonzert …INSELN RANDLOS… (1994/95). Für Ruzicka erscheint das neue Werk wie die „Rückseite“ des früheren. Klingt hier etwas, das 26 Jahre zuvor schon schlummerte, aber noch im Dunkeln lag? Allemal wirkt die Musik freier, gelöst hat sich aber nichts. Wieder ist es die raffinierte Verschränkung verschiedener instrumentaler Klangräume, die EINGEDUNKELT zu einer Klangreise machen, deren Ziel immer wieder entgleitet und in der das Subjekt, klanglich verkörpert durch die Solovioline, beständig seine Stimme erhebt. Mit mehr „Sprache“ als die SängerInnen des Chores, deren Hauptfunktion es ist, das Klangspektrum des Orchesters zu erweitern. Und mit mehr Mut zum Melos als früher. Ein Melos gleichwohl, dem die Luft zum Atmen immer wieder genommen wird: Aus der Tiefe aufsteigend und sich in grelle Höhen arbeitend, gerät es in die Fänge anderer Gewalten, reißt ab, wehrt sich, verstummt, um es im nächsten Anlauf neu zu versuchen. Diese instrumentale Rede kulminiert in einer fulminanten Kadenz: In einer langen, langsamen Passage aus Proportionaltakten, in der die Solostimme vor dem Hintergrund dunkel drohender Klangflächen von Chor und Orchester immer wieder die dynamischen Randbezirke ihres Instruments auslotet und noch weiter zu wollen scheint. Aber sie bleibt im Wortsinn eingedunkelt. In der Mitte des Konzerts steht, wie ein Anker in die eigene Vergangenheit, ein wörtliches Zitat aus …INSELN RANDLOS… Es ist der Anfang der einzigen Passage, in der der Chor in herkömmlicher Weise einen Text singt: Zeilen aus „Lichtverzicht“, eines von Ruzickas Lieblingsgedichten Paul Celans, das er ein Jahr nach dem Violinkonzert auch für Sopran und Klavier vertont hat: „Der vom Botengang hallende Tag, die blühselige Botschaft schriller und schriller, findet zum blutenden Ohr.“
Im 2022 im Auftrag des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg komponierten, rein instrumental besetzten REQUIEM führt Ruzicka den Dialog verschiedener Klangräume weiter. Das in drei heterogene Gruppen aufgeteilte Orchester ist auf drei Ebenen im Raum verteilt. Emblematisch ist ein stilles, extrem langsames Wechselspiel einer dissonanten Akkordfolge in den Streichern, eine ferne Anverwandlung der alten „Dies irae“-Sequenz, und einer dezenten Orgelfigur in einem gleichsam „verschmutzten“ a-Moll. Wenn diese Passage im letzten Abschnitt des Stücks erneut erklingt, tritt eine verwehte, wie aus dem Jenseits herüberklingende Linie der Trompete dazu. Zwischen diesen Momenten der Kontemplation eröffnen gewaltige Klangkaskaden, Schreie, Abbrüche und furiose Stürme musikalische Höllenschlunde, die an Szenarien auf den Gemälden Hieronymus Boschs erinnern. Peter Ruzicka spricht von „Schreckensvisionen vom Weltende als kosmischer Katastrophe“. Brechen sich hier existentielle Ängste angesichts des unausweichlichen Gangs in die Klimakatastrophe Bahn?
Mittendrin, nach einer ff-Eruption der auch in diesem Werk wieder zentralen melodischen Leitformel aus aufwärts geführten Halbton- und Tritonus-Schritten, erscheinen jene diffusen Klangschatten in den Streichern, die sich durch Ruzickas Werke seit der Oper „Benjamin“ wie eine (M)Ahnung ziehen, leise beantwortet vom Fernwerk der Orgel. Die solcherart schon in der Partitur angelegte klangräumliche Wirkung dieser Musik wird durch die Positionierung der Klanggruppen im Raum außerordentlich gesteigert, das Unermessliche ebenso auslotend wie den unnennbaren Schritt durch Zeit und Raum vom Diesseits ins Jenseits. Eine Musik über den Tod als „Übergang in das für menschliche Erfahrung Ungewisse…“(P. R.)
Uwe Sommer-Sorgente
Peter Ruzicka
…POSSIBLE A CHAQUE INSTANT…
Dritter Versuch eines kompositorischen Selbstporträts (2009-2018)
Im Frühjahr 2009 bemerkte ich bei einer Neueinstudierung meiner zehn Jahre zuvor komponierten Oper CELAN am Theater Bremen, dass sich einige zentrale Momente der groß besetzten Orchesterpartitur sehr wohl auch in der Linearität des Klaviersatzes „abbilden" lassen. Entstanden sind damals unter dem Titel FÜNF SZENEN einige Charakterstücke, die ich wegen ihrer Nähe zum Bühnengeschehen „Szenen" nannte, die aber im Rahmen meines Klavierzyklus ein dramaturgisches Eigenleben erfahren. In jedem der Stücke gibt es Momente des Innehaltens, des stillen Nachlauschens. Und solche „Selbstwahrnehmung" mag vom Hörer als wesentliches Moment meiner Musik nachvollzogen werden. Einen ähnlichen Nachklang zu der Oper bildet das im gleichen Jahr entstandene kurze Stück REZITATIV für Violoncello und Klavier. Hier führt das das Solocello wie in einem großen virtuosen Rezitativ, aber in ganz eigener dramaturgischer Fügung, durch zentrale Ereignisfelder der Opernpartitur. Immer wieder hält die Musik dabei wie erinnernd an, als fände sie aus ihrem Rückhören auf Vergangenes erst den Impuls zum Weitersprechen. So erscheint REZITATIV wie ein Dialog zweier Sprachebenen, wie eine musikalische Selbstbegegnung.
Die 2010 geschriebenen Kompositionen TRANS für Kammerensemble und … ÜBER DIE GRENZE für Violoncello und Kammerorchester waren zunächst als instrumentale Vorstudien für ein nächstes Opernprojekt nach dem Musiktheater HÖLDERLIN angelegt. Ich wählte diese Titel, um einen Umschlag von realer Gestalthaftigkeit in etwas Transzendentales, Jenseitiges zu imaginieren. Damals stand ich unter dem fortwirkenden Eindruck von Gesprächen mit einem Komponistenkollegen, der mir von persönlichen Nahtod-Erfahrungen erzählte. Er vermittelte mir die Gewissheit, dass es so etwas wie einen jenseitigen Bezirk gäbe, für den andere Maßstäbe der subjektiven Wahrnehmung gelten. Solche Grenzbereiche der menschlichen Erfahrung haben, und das ist bekannt, nicht wenige Menschen betreten. Für mich als Komponist wurde da etwas angestoßen. Gemeint ist jener Umschlagspunkt, wo Zeit und Raum vergessen sind und eine neue, höhere Erlebnissphäre erreicht wird. Und eben von solchen Grenzüberschreitungen sollte auch die neue Oper handeln. Einige Zeit später wurde mir indessen deutlich, dass eine Visualisierung dieses existentiellen Spannungsfelds in der Realität der Bühne kaum glaubhaft gelingen kann. Und so wurde der angedachte Plan eines neuen Musiktheaters wieder aufgegeben.
Der Beginn beider in ihrer Gestalthaftigkeit ähnlichen, sich teilweise zitathaft entsprechenden kammerorchestralen Werke ist sehr fein gesponnen, vielfach an den Grenzen der Hörbarkeit angesiedelt. Die Musik erwächst aus dem Nichts („dal niente“) und kehrt nach Abschnitten großer Entwicklungsdichte und Intensität ins Nichts zurück. TRANS wie …ÜBER DIE GRENZE arbeiten vielfach mit Allusionen, einer Gestik des „Als ob“, der Rückschau. Bisweilen nehmen sie sich durch „Übermalungen“ auch selbst zum Gegenstand. Durchweg wird musikalische Zweisprachigkeit imaginiert. Momente von gestalthafter Konkretion und einer eher ungewissen, irrationalen Sphäre stehen sich gegenüber. Bisweilen durchdringen sich diese Bewusstseinszustände. Und immer wieder scheint im Cellokonzert die Solostimme des Violoncellos über die Grenze der Sphären hinweg zu führen. Die Werke changieren zwischen zwei verschiedenen musikalischen Sprachen. Sie berühren Grenzbereiche zwischen Leben und Tod, wie sie in jenen Nahtoderfahrungen beschrieben werden.
Noch im gleichen Jahr entstand im Auftrag der Wiener Philharmoniker und für Christian Thielemann das Orchesterwerk „…ZURÜCKNEHMEN…“. Dessen Anlage gleicht einem Palimpsest. Es ist ein Gang durch verschiedene Schichten meines musikalischen Bewusstseins. Die Erinnerung richtet sich zurück auf früher Gedachtes, Verworfenes, auch Unbewusstes – auf der Suche nach der „verlorenen Zeit“. Die sich zunehmend überstürzenden Ereignisse erscheinen wie ein rücklaufender Lebensfilm. Die Erinnerung wird ausgelöst durch zwei „magische Momente“ der Neunten Symphonie von Beethoven: jenem hochgespannten „Schreckensakkord“ des vierten Satzes und der unvergleichlich modulierenden Akkordfolge des langsamen Satzes. Beides sind dies bewusstseinsprägende Erinnerungen, die in der eigenen musikalischen Sprache fortgewirkt haben. Den gedanklichen Impuls für dieses Werk bildete jener berühmte Diskurs in Thomas Manns Roman Dr. Faustus: „Ich habe gefunden', sagte er, 'es soll nicht sein.' 'Was, Adrian, soll nicht sein?' 'Das Gute
und Edle', antwortete er mir, 'was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.' 'Ich verstehe dich, Lieber, nicht ganz. Was willst du zurücknehmen?' 'Die Neunte Symphonie‘, erwiderte er. Und dann kam nichts mehr, wie ich auch wartete.“ Peter Becker hat bemerkt, dass in jenem Wort von der „Zurücknahme“ Thomas Manns eigener Zweifel daran mitklingen mochte, ob der in der Neunten ausgerufene "liebe Vater" auch über Judensternen wohnt…
Unmittelbar anschließend entstanden für das Mahler-Jahr 2011 mit EINSCHREIBUNG und MAHLER-BILD zwei Orchesterwerke, die sich wie ein "zweiter Blick" auf bestimmte Gestalten Mahlerscher Musik ausnehmen. Durchweg sind es jene unvergleichlichen Momente des Durchbruchs, die sich seit meiner ersten hörenden Begegnung tief in mein musikalisches Bewusstsein eingebrannt haben und die impulshaft in die Klangrede meiner Stücke einströmen. Zu orten sind sie als sekundenkurze Spuren, vor allem aus der Textur der neunten und zehnten Symphonie. Die Gestalten zerfallen sogleich wieder, aber sie wirken untergründig in meiner Musik fort. Bei der Komposition von EINSCHREIBUNG machte ich die Erfahrung eine Selbstbeobachtung: die Musik schaut im Moment des Erklingens nach vorn - aber gleichermaßen auch zurück. Im beständigen Wechsel von Annäherung und Entfernung entstanden sechs Klangfelder, die sich zwischen Identifikation und einem unbestimmten Nicht-Identischen, Fortweisenden bewegen.
MAHLER – BILD im Jahre 2010, auch dies ein "zweiter Blick", hier auf Mahlers spätes Fragment der Zehnten, auf jenes Adagio, das vor hundert Jahren die einst tradierten musikalischen Ausdrucksgrenzen durchbrach. Auf den Schrei des Neuntonklangs, jene Exklamation von Verlust und Verzweiflung. Auf die ins Unendliche weisende Bratschenlinie, die von Zurücknahme und Abschied kündet und zuletzt in ein Auflösungsfeld von transzendenter Weite mündet. Der zweite Blick eines heutigen Komponisten, dessen eigenes musikalisches Material sich der fremden Gestalt annähert und dann doch wieder entfernt. Identifikation und Distanz, kreisende Bewegung, dabei Mahler gleichsam konzentrisch umschließend. Nach nochmaligem Ausbrechen dann Stillstand, Verschwinden, Introspektion, bevor unter fernen Signalen das Bild vergeht.
Mein lange gehegter Wunsch eines Oboenkonzerts für Albrecht Meyer gelangte im Jahre 2011 zur klingenden Realität. Die Komposition der AULODIE umfasst sieben ineinander übergehende Szenen von unterschiedlicher Dichte, Dauer und instrumentaler Balance. Die das Soloinstrument begleitende Klangformation besteht aus 20 Streichern, 3 Schlagzeugern, Harfe, Klavier und Celesta. Alle Szenen beginnen mit einem identischen musikalischen Signal und öffnen den Raum für sieben "Klangreden", die während des Erklingens den Impuls zu ihrem Fortschreiten erst erfahren. "Aulos" war jenes altgriechische Instrument, das bei besonderen Anlässen erklang: als kämpferisches Arbeitslied, als Totenklage, Hochzeitsmusik, Waffentanz oder bei Satyrspielen, die bis zu wilder Raserei gingen. Auch in der AULODIE bestimmen emotionale Grenzsituationen die sieben Szenen der Komposition. Dabei scheint die Musik vielfach innezuhalten, auf sich selbst zurück zu hören, auf früher Erklungenes zu verweisen. AULODIE mag als mein vielleicht "romanhaftestes" Werk gelten.
Meine ZWEI ÜBERMALUNGEN aus dem Jahre 2012 beziehen sich auf zwei späte Klavierstücke Franz Liszts: "Unstern! - Sinistre" aus dem Jahre 1885 und "Am Grabe Richard Wagners" von 1883. Beide folgen einer musikalischen Rhetorik, die aus der Zeit gefallen scheint: frei gereihte melodische Gesten, die zögernd ansetzen und wieder verstummen, rhythmische Spuren ohne Fortschreitung, eine sich in unbestimmter Harmonik endlich auslöschende Musik. Meine für großes Orchester geschriebenen Kompositionen ÜBER UNSTERN und R.W. kreisen um diese solitären Klaviermeditationen. Musikalische Gestalten werden aufgenommen, angehalten, vergrößert und überschrieben. Ein Weiterdenken in einer kontrasubjektiven Sprache, die Annäherung, Identifikation und Widerspruch, zu formulieren versucht. Die 2012 bzw. 2014 für Klavier entstandenen „Späten Gedanken“ zu UNSTERN und „Nachzeichnung“ zu R.W. versuchen eine noch weitergehende, aus der erinnernden Distanz ansetzende Transkription, als Kommentar zu der Klaviermeditation Liszts ebenso wie zu meinen eigenen Orchesterpartituren: Musik über Musik über Musik.
CLOUDS, ein „work in progress“ entstand in drei Etappen zwischen 2012 und 2013. Meine Musik begibt sich hier auf die Suche nach einem imaginären fernen Klang, dem sie nahekommt, ohne ihn je vollends zu erreichen. Der Weg führt durch Klangwolken: kristalline musikalische Gestalten, die in unterschiedlicher Formung und Dichte den Blick zu versperren scheinen. Ein heftiger Ausbruch des ganzen Orchesters überdeckt die Klangrede. Schließlich werden Felder der Erinnerung an Vergangenes betreten. Zunehmend fragile, musikalisch übermalte Gestalten säumen den Weg. Und allmählich scheint die Musik zurückzukehren. In der dritten, wesentlich erweiterten Fassung unter dem Titel CLOUDS 2 steht ein konzertierendes Streichquartett dem groß besetzten Orchester solistisch gegenüber. Nach der rein orchestralen, ursprünglichen Fassung wird hierdurch eine zusätzliche Ebene in die musikalische Architektur des Stücks eingezogen, Momente der selbstbeobachtenden Rückschau und Kontemplation wie der entwickelnden Variation.
Mit SPIRAL und LOOP entstanden nach längeren Vorarbeiten zwei konzertante Werke. Meiner Komposition SPIRAL für Hornquartett und Orchester, 2013 geschrieben, liegt die Vorstellung zugrunde, dass musikalische Gestalten durch Wiederholung und Differenz in einen Zustand des Kreisens geraten. Sie gelangen dabei spiralartig in eine jeweils höhere Ebene der Wahrnehmung. Der „hörende Blick“ auf das bereits Verklungene wird zum „Subtext“ des Stücks. Das Werk ist dreiteilig angelegt. Zwischen zwei für das solistische Hornquartett und das Orchester sehr virtuose Außensätze fügt sich ein langsamer Teil, der in eine zunehmend ausbrechende Kadenz unter Einbeziehung von Pauken und Klavier mündet. Der Untertitel „Konzert“ verweist auf die durchweg dialogische Beziehung der vier Solisten mit der groß besetzten Orchesterformation.
LOOP für Trompete und Orchester aus dem Jahre 2017 bezieht seinen Werktitel aus der permanenten Variation einer in rasender Geschwindigkeit ablaufenden Urzelle auf. Auch hier führt ein Zusammenspiel von Wiederholung, Übermalung und Reduktion der Gestalt zu einer musikalischen Spirale, die die Virtuosität des Soloinstruments gleichsam „vorführt“. Im zweiten und vierten Teil der Komposition tritt an die Stelle der Trompete ein Flügelhorn mit einem ins Offene weisenden, fragenden „Canto“.
ELEGIE, Erinnerung für Orchester ist 2014 entstanden. Die letzten 13 Takte, die Richard Wagner schrieb und am Vorabend seines Todes im Palazzo Vendramin Freunden vorspielte, sind eine Liebeserklärung an Cosima – in Gestalt einer geheimnisvollen Frage. Die „Elegie“ erscheint wie eine musikalische Selbstbeobachtung, die wie von Ferne auf den „Tristan“ und die Geschehnisse seiner Entstehung verweist. Wagners Klavierskizze beschäftigte mich schon seit langer Zeit. Ihre Offenheit und Unbestimmtheit veranlasste mich zu einem „Fortdenken“, zu einer sehr persönlichen musikalischen Annäherung. Ich wählte hierfür das klangliche Potential eines Streichorchesters, dem Impulse und „Schattenklänge“ dreier Flöten und des Schlagzeugs unterlegt sind. Wagners Frage bleibt bestehen. Und sie erscheint auch heute unbeantwortbar…
Mein im gleichen Jahr geschriebenes Orchesterwerk FLUCHT steht in initialem Zusammenhang mit dem neuen abendfüllenden Musiktheater BENJAMIN. Wie schon vor der Komposition meiner beiden früheren Opern CELAN und HÖLDERLIN habe ich auch hier versucht, mich in Gestalt eines reinen Orchesterwerkes dem spezifischen „Ton“ zu nähern, der für die spätere Opernpartitur bestimmend sein sollte. Ich erprobte hierbei für mich neues musikalisches Material und begab mich auf formale Wege, die für meine kommende kompositorische Arbeit bedeutungsvoll sein sollten. Das Stück zeichnet kein inneres Programm und ist – wie auch die Oper – nicht eigentlich ein Werk „über“ oder „mit“ Benjamin, sondern „aufgrund von Benjamin“, dessen rastloses Reisen hier selbst Klang werden soll. Dabei mag man der Partitur wohl etwas von der hermetisch-mystischen Tiefe vieler seiner Texte abspüren, auch etwas von der Diskontinuität seines Denkens. Und man wird auch von dem von Depression und Vereinsamung heimgesuchten Walter Benjamin erfahren. Die musikalische Gestik erscheint als eine „Reise ins Innere“…
In vielen Gesprächen mit der Textautorin und Regisseurin Yona Kim formte sich allmählich das Szenario für das abendfüllende Musiktheater BENJAMIN, das im Auftrag der Hamburgischen Staatsoper zwischen 2015 und 2016 entstand. Yona Kim hat die Dramaturgie der Oper wie folgt beschrieben:
Was geht in Walter Benjamin vor, als er auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in einer Lichtung tief in den Pyrenäen jene Septembernacht allein verbringt? Er hat nichts bei sich außer seiner Aktentasche mit Manuskripten. Vor ihm erstrecken sich die Wälder, die ihn zur französisch-spanischen Grenze bringen sollen. Der rastlose Reisende und unermüdliche Grenzgänger, der Walter Benjamin in seinem Leben sowie seinem Denken und Schreiben stets war, steckt nun an einer existentiellen „Schwelle“ fest, in „einer Zone“ des gefährlichen Übergangs. Die Übergangsriten, „rites de passage“, die er in diesem nächtlichen Wald abhält, sind die des Lebens und des Todes. Und das Denken selbst wird zu einer Frage des nackten Überlebens. Er kann bei der Morgendämmerung den ungewissen Weg durch den Wald weitergehen und die rettende Grenze nach Port Bou überschreiten, ohne gefasst zu werden. Doch die Flucht kann ebenso misslingen, und die Folge ist seine Auslieferung an die Nationalsozialisten, was den Tod bedeutet.
Kein dialektisches Denken, dem er sich zeitlebens mit aller Vehemenz und Skepsis zugleich verpflichtet hatte, wird je in der Lage sein, die unversöhnliche Gegensätzlichkeit dieser beiden Hypothesen zu synthetisieren. Der tiefe Riss, der sich hier auftut, ist der Raum, wo das Musiktheater BENJAMIN beginnt. Es ist ein labyrinthisches Spiel des Erinnerns und Vergegenwärtigens an der Schwelle des (Über-)Lebens, das keiner Logik der Chronologie oder der Ortseinheit gehorcht, sondern sich einzig und allein auf den Sog, ja, den Blutstrom des Vergegenwärtigten einlässt. Geschichtliche Begebenheiten, Lebensereignisse, Thesen und Menschen, reale wie fiktive, werden Walter Benjamin umkreisen, ebenso erratisch-irrlichternd wie zwingend-folgerichtig, und sie werden sich immer erneut miteinander verschränken. Denn es geht keineswegs darum, die Biographie von Walter Benjamin nachzuerzählen, es ist vielmehr der Versuch eines Musiktheaters, das in seiner Dramaturgie die magische Gangart seines radikal grenzgängerischen Denkens aufnehmen will, das kein abgeschlossenes Denkgebäude, kein Zuhause suchte, sondern das rastlose Reisen selbst war.
...JE WEITER ICH KOMME, UM SO MEHR FINDE ICH MICH UNFÄHIG, DIE IDEE WIEDERZUGEBEN... ist eine noch vor der Oper entstandene Hommage an meinen Kollegen und Freund Wolfgang Rihm aus Anlass seines 60. Geburtstages im Jahre 2012. Das Stück nimmt ein Briefzitat von Gustav Flaubert auf, das Wolfgang Rihm am Rande der Partitur seiner „Musik für drei Streicher“ notierte. Es kommentiert eine rasende musikalische Verdichtung, die allmählich anzusteigen scheint - unabgeschlossen, offen, unbestimmt. Mein Widmungsstück für neun Instrumente bewegt sich auf diese Stelle zu, zunächst fragmentarisch, tastend, nur allmählich Sprache findend. Dann immer ausbruchshafter, ekstatisch, kreisend. Aber die Musik scheint den imaginären Fluchtpunkt zu verfehlen...
MNEMOSYNE für Sopran, 18 Streicher und Schlagzeug aus dem Jahre 2016 basiert auf Fragmenten des späten Hölderlin. Texte der „Mnemosyne“, jener dunklen Beschwörung von Vergänglichkeit und Ewigkeit, hatten schon meinem 6. Streichquartett ERINNERUNG UND VERGESSEN aus dem Jahre 2008 zugrunde gelegen. Das neue Stück greift noch weiter aus, sowohl was den textlichen Vorwurf anbelangt als auch durch die Einbeziehung eines Streichorchesters mit Schlagzeug: Musik über Musik, die tief zurück in mein musikalisches Denken blickt, indem Vergangenes in der Zone zwischen Vergessen und Erinnerung durch Umkreisen, Durchdringung und Aneignung vergegenwärtigt wird.
Das mit rund 40 Minuten Spieldauer längste meiner Kammermusikwerke wurde 2016 abgeschlossen. Der Titel des 7. Streichquartetts …POSSIBLE A CHAQUE INSTANT… verweist auf einen Gedanken von Paul Valéry zum künstlerischen Schaffensprozess, der mich seit langem beschäftigt: „Vielleicht wäre es interessant, einmal ein Werk zu schaffen, das an jedem seiner Knotenpunkte zeigen würde, wie Verschiedenartiges sich dort dem Geiste darbieten kann, bevor er daraus eine einzige Folge wählt, die dann im Text vorliegt. Das hieße: an die Stelle der Illusion einer einzigen, das Wirkliche nachahmenden Bestimmung diejenige des ‚In-jedem-Augenblick-Möglichen‘ setzen.“ Eine solche reflexive Beobachtung setzt für mich Beethovens Streichquartett op. 131 frei, ein singuläres Werk, das beständig auf einen „Möglichkeitshorizont“ verweist. In meinem 7. Streichquartett vermeide ich eindeutige Kontinuitäten und spreche vielfach in Möglichkeitsform über „Fragmente aus der Zukunft“. Das Stück zielt auf eine kompositorische Selbsterfahrung, die nicht auf die Totalität der Komposition abzielt, sondern ihren prozesshaften Verlauf spiegelt. Ich habe dieses 7. Streichquartett als einen Durchbruch in meiner jüngeren Werkfolge empfunden. Es mag neue Fragen aufgeben, denen ich mich in den kommenden Jahren zuwenden werde.
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PETER RUZICKA
Namensartikel aus: DIE MUSIK IN GESCHICHTE UND GEGENWART, Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Band 14, 2005, Kassel 2005, S. 714-718
mit aktuellem Werkkatalog, Biographie und Schriftenverzeichnis
(Bearbeiterin: Friederike Wißmann)
Während Ruzicka als entscheidungsfreudiger Intendant gilt, findet der Komponist Gelegenheit, die Sprachmächtigkeit des künstlerischen Ausdrucks zu hinterfragen. Seit seinem frühen Schaffen thematisiert Ruzicka die Ambivalenz menschlichen Schicksals, was in seiner frühen Komposition TODESFUGE (1968/69) verhalten spürbar wird. Bereits hier konfrontiert er den Hörer mit dem Verstummen als Teil der Komposition, was für Ruzickas Schaffen große kompositorische Relevanz hat. Seine Arbeiten machen deutlich, dass der Komponist weder Allgemeinplätze noch festgeschriebene Kategorien aufruft. Er ist zwar unüberhörbar einer deutschen Kompositionstradition verpflichtet, doch wählt Ruzicka seine geistigen Vorbilder gleichermaßen in außermusikalischen Bereichen, etwa in der Kunstphilosophie Theodor W. Adornos, der er seine ‚musica negativa' entlehnt. Inspiriert durch Adornos philosophische Perspektive, interessiert er sich für die Ambiguität geschichtlicher Prozesse, auch Adornos Emphase für Mahlers ‚antithetisches Komponieren' und dessen ‚dialektische Brechung' teilt Ruzicka. Die dem musikalischen Material selbst innewohnende Dialektik schließlich wird zum Gegenstand seiner eigenen Kompositionen, der Aphorismus erfährt eine ihm entsprechende Form.
Ruzicka setzt sich als Komponist fruchtbar mit den institutionalisierten Konstellationen von Interpret und Hörer auseinander, wie in dem Cellokonzert IN PROCESSO DI TEMPO... (1971), in dem der Cellist bewusst den Kategorien und Ansprüchen an einen Solisten entsagt. Diese prozesshafte Komposition reicht von dramaturgisch organisierten Kommunikationsstörungen zwischen Solist und Orchester bis zur plastischen Aufhebung des Soloinstruments. Ruzicka führt auch das musikalische Material vom allusionsreichen Tonwortschatz bis zur Sprachlosigkeit. IN PROCESSO DI TEMPO... ist auch insofern charakteristisch, als Ruzicka hier ein bald gewaltsam anmutendes Geräuschaufgebot filigran anmutenden Klangsphären gegenüberstellt. Das Flötenkonzert EMANAZIONE (1975) verhandelt die ‚Dialektik der Virtuosität' (Ruzicka), wobei auch hier die Grenze menschlichen Ausdrucks zur Disposition steht. Seit den 1970er Jahren weisen Ruzickas Kompositionen eine zunehmende Radikalisierung auf. Ruzicka entwickelt eine verdichtete Tonsprache, die sich intensiv mit den jeweiligen inhaltlichen Sujets und deren Darstellungsparametern auseinandersetzt. In seinen Kompositionen erklingt meistens ein konventioneller Orchesterapparat, doch widersetzt Ruzicka sich gleichwohl konsequent festgeschriebenen Hörgewohnheiten und Erwartungshaltungen des Konzertbetriebes. Dabei ist den Kompositionen keine direkte Politisierung ablesbar, sondern vielmehr eine indirekte Stellungnahme eingeschrieben, indem festgefügte Strukturen negiert werden und die Kompositionen in Faktur und Instrumentation an Grenzen gemahnen.
In seinen Werken tritt immer wieder der künstlerische Umgang mit der Zeit hervor, was die Kompositionen METASTROFE (Zeitumkehr), 1971) mit ihrer rückläufig angelegten Form, AUSGEWEIDET DIE ZEIT... (1969) oder Z-ZEIT für Orgel (1975) auch inhaltlich verdeutlichen. Der Zweifel an einem vermeintlich ganzheitlichen Werkcharakter ist in Ruzickas Kompositionen greifbar, tendiert seine Formgestaltung doch bewusst zum Fragmentarischen, wie etwa in „...FRAGMENT..." (1970) oder GESTALT UND ABBRUCH (1979). Der Schaffensprozess tritt in diesen Kompositionen als eigenständiger Teil des Kunstwerks hervor. In GESTALT UND ABBRUCH ist die Frage nach den Ausdrucksmöglichkeiten einer zeitgenössischen Musik und ihrer Kommunizierbarkeit aufgeworfen. Als spätes Requiem auf Paul Celan ist GESTALT UND ABBRUCH überdies ein Abgesang auf mögliche, von der Musik ausgehende Impulse zur Veränderung gesellschaftlicher Strukturen. Die Komposition ANNÄHERUNG UND STILLE (1981) konfrontiert den Hörer mit den wahrnehmbaren Grenzen von Laut und Stille. Nachdem Ruzicka in den Jahren 1977 bis 1980 kaum komponierte, markiert ANNÄHERUNG UND STILLE eine Art Wendepunkt seines Schaffens. Wäre das Schweigen Konsequenz aus einer früheren Schaffensästhetik, geht es Ruzicka seit den 1980er Jahren zunehmend um die Frage, wie Tradition und zeitgenössisches Denken in seinen Kompositionen einen angemessenen Ort finden. Die Fragmentästhetik tritt hinter dem Interesse am kantablen Nachklingen zurück, das Ruzicka etwa in der Komposition SATYAGRAHA (1984/1995) aufleuchten lässt. Die Fragilität künstlerischer Artikulationen und das Interesse an kommunikativen Strukturen bleiben feste Parameter seines Schaffens.
In dem Bratschenkonzert „...DEN IMPULS ZUM WEITERSPRECHEN ERST EMPFINGE" (1981) dessen Titel Ruzicka Theodor W. Adornos Schrift Mahler, eine musikalische Physiognomik entlehnt, wird das sensible Moment der Sprachfindung erneut thematisiert. Mit dem Rekurs auf Skizzen des 1. Satzes von Mahlers 9. Symphonie zeigt sich, wie Ruzicka durch seine Musik Mahlers fragiles Komponieren reflexiv, mitunter fast analytisch umspielt.
Lyrische Topoi sind assoziierbar, wenn eine narrative Ästhetik seine Kompositionen prägt, so in den zahlreichen Anspielungen und Allusionen, die Ruzicka nie museal ausstellt, sondern stets in seiner Musik reflektiert. Ruzicka entwirft Spiegel- und vexierbilder, was in seiner „Musik über Musik" (Ruzicka) deutlich wird. Die einsätzige Komposition METAMORPHOSEN ÜBER EIN KLANGFELD VON JOSEPH HAYDN (1990), fußend auf Haydns Oratorium "Die sieben Worte" (1795/96), ist ein prägnantes Beispiel dafür. Ebenfalls einsätzig ist die Orchesterkomposition TALLIS, Einstrahlungen für großes Orchester (1993), welche von der vierzigstimmigen Motette "Spem in alium" (1567/69) von Thomas Tallis ausgeht. Wie in seiner Musik über Haydn nähert sich Ruzicka auch der komplexen Tallisschen Komposition über das Aufgreifen und Umspielen von Klangfeldern und -strukturen. Wenn Ruzicka „Musik über Musik" schreibt, bedeutet dies für ihn nicht, automatisch auf Historisches zurückzugreifen. Dies zeigt sein Umgang mit den Kompositionen Allan Petterssons, mit denen sich Ruzicka - wie mit geschichtlich tradierten Kompositionsmustern - auseinandersetzt.
Prägend für die 1990er Jahre ist Ruzickas große Bühnenkomposition CELAN (Text von Peter Mussbach), ein Musiktheater in sieben Entwürfen (1999). Es ist dies keine musikalisierte Künstlerbiographie, sondern eine intensive Auseinandersetzung mit einer Poetologie nach Paul Celan. Die Kompositionen RECHERCHE (-IM INNERSTEN) (1998), „...VORGEFÜHLE..." (1998) und NACHKLANG, Spiegel für großes Orchester (1999) sind keineswegs bloße kompositorische Studien zu CELAN, doch zeichnet sich eine Entwicklung ab, die mit CELAN in der erstmalig von Ruzicka verwendeten großen Form mündet. Wie zuvor das Prozesshafte die Kompositionen Ruzickas bestimmte, steht nun, wenn er die Gehalte der Celanschen Poetik aufspürt, die inszenierte Bewegung selbst im Vordergrund. Das musikalische Material wird in einem ersten Entwurf vorgestellt, um dann kraft Variation und Spiegelung verschiedenste Stadien aus immer neuen Perspektiven zu durchlaufen. Ruzicka hat in seiner kompositorischen Auseinandersetzung mit Celan keine Vertonung vor Augen. Sein Umgang mit Dichtung beruht auf einer intensiven Beschäftigung mit Sprachmelodien und -rhythmen, die in der kompositorischen Spurensuche lyrischer Dynamik mündet. Auch hier geht es ihm um das Vexierspiel von Annäherung und Distanzierung, das Spiegeln und Aufbrechen hermetischer Systeme und Ordnungen. In Ruzickas Werken sind festgeschriebene Kompositions- und Musizierformen in Frage gestellt, wobei das Antwortsuchen den Kompositionen häufig implizit ist. Dies wird auch in seinen Streichquartetten deutlich, in denen Ruzickas prozesshafte Ästhetik ablesbar ist, wenn mittels Themen von Abschied und Tod universelle Aussagekraft und Intimität kompositorisch vereint sind.
Außermusikalische Faktoren sind oftmals mitbedacht, nicht selten sogar konzeptioneller Bestandteil des „Werks". Ruzickas Kompositionen kommunizieren auf verschiedenen Ebenen, wobei das Wechselspiel von Reflexion und Emotion für sein Schaffen charakteristisch ist. Das Schaffen Ruzickas zeugt, obschon von Brüchen und Introversionen gezeichnet, von einer expressiven Sprachkraft und einer ausdrucksstarken Klarheit.
Peter Ruzicka arbeitet interdisziplinär, nicht nur, was seine berufliche Profession anbelangt. Auch in seinen Kompositionen ist der diskursive Austausch mit Komponisten, Philosophen oder Literaten zentral. Kraft seiner musikimmanenten An- und Umspielungen reflektiert er das ihm zur Verfügung stehende musikalische Material. Es scheint bald so, als ob Ruzicka auch in seinen Kompositionen zuweilen die Sicht eines Außenstehenden wahrt. Die Faktur seiner Musik unterstreicht jene Reflexivität, die den Bruch und die mögliche Umkehrung impliziert.
Friederike Wißmann (2005)